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100 Jahre Frauenfussball in der Schweiz: Vom Schattendasein ins Rampenlicht

Eine umfassende historische Betrachtung zeigt: Die Frauen mussten in der Schweiz viele Widerstände überwinden, ehe sie als Fussballerinnen akzeptiert waren. Die EM ist der vorläufige Höhepunkt einer langen Entwicklung. Unsere Autorin und Expertin Marianne Meier blickt zurück – und wagt eine Prognose, wie es weitergehen müsste. Marianne Meier über Frauenfussball


Erstes offizielles Länderspiel: Das Schweizer Team 1972 gegen Frankreich (Keystone)
Erstes offizielles Länderspiel: Das Schweizer Team 1972 gegen Frankreich (Keystone)

«Frauen stürmen den Platz», überschrieb die «NZZ am Sonntag» im April 2025 einen Artikel zum Schweizer Frauenfussball. Bereits mit der Vergabe der Euro 2025 war festgestanden, dass der Fussball der Frauen in der Schweiz angekommen ist. Aber handelt es sich um ein neues Phänomen? Mitnichten. Obwohl der aktuelle Boom wahrlich bemerkenswert ist, blicken die Fussballerinnen bereits auf eine hundertjährige Geschichte zurück. Diese war geprägt durch Kampf, Leidenschaft, Beharrlichkeit und Spielfreude. Wie ist es zum Durchbruch gekommen? Wer waren die treibenden Kräfte hinter dieser Entwicklung? Welche Herausforderungen galt und gilt es in der Schweiz zu meistern? Dieser Artikel gliedert die Geschichte der Schweizer Kickerinnen in vier grosse Phasen.


Dass sich eine historische Betrachtung lohnt, wusste bereits der Philosoph August Bebel: «Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.» Ein Blick zurück ist also unabdingbar, um die gesellschaftliche Legitimation des Frauenfussballs in der heutigen Gesellschaft zu festigen. Und nur auf dieser Basis können die benötigten Veränderungen in der Wirtschaft, in der Politik, in den Medien und insbesondere in den Verbänden und Vereinen erkannt und endlich umgesetzt werden.


1. Pionierinnenphase (1923–1970)


Bei der prä-institutionalisierten Phase von Pionierinnen und Pionieren (1923–1970) handelt es sich um informelle Aktivitäten und mutige Vorstösse einzelner Personen. Die ersten Spuren des Frauenfussballs in der Schweiz führen nach Genf. Dort gründeten 1923 junge Frauen aus der Oberschicht die Gruppe «Les Sportives». Die Initiantin Francesca Pianzola nahm 1922 auch als zweihändige Speerwerferin an der ersten «Frauenolympiade» in Paris teil und errang 1925 den Weltrekord in dieser Disziplin.


Anfang der 1960er-Jahre setzte dann, propagiert durch die beliebten Grümpelturniere, eine auf Fussball bezogene Breitensportbewegung ein. In Murgenthal riefen 1963 Monika und Silvia Stahel sowie Theres Rüsch mit dem FC Goitschel das erste Frauenteam der Schweiz ins Leben. Zudem fungierten die Stahel-Schwestern als erste Schiedsrichterinnen auf helvetischem Fussballrasen.


Die Walliserin Madeleine Boll erhielt 1965 die weltweit erste Fussballlizenz eines Landesverbandes für ein Mädchen. Dies löste auch international ein grosses Medienecho aus. Da dies gemäss Schweizer Fussballverband (SFV) aber «aus Versehen» geschah, wurde der Pass umgehend annulliert. 1969 wurde dann der FC Valère gegründet, der von Madeleines Vater, Jean Boll, präsidiert wurde.


Der erste «Damen-Fussball-Club» im Sinne eines Vereins nach Art. 60 ZGB wurde aber in Zürich ins Leben gerufen. Die damals 18-jährige Ursula Moser übernahm das Präsidium des DFCZ. Ihr Vater Franz Moser wirkte nicht nur im Vorstand, sondern engagierte sich 1970 auch als Gründungsmitglied der «Schweizer Damenfussball-Liga» (SDFL).


2. Institutionalisierungsphase (1970–1993)


Diese zweite Phase zeichnete sich durch eine gesamtschweizerische Organisationsstruktur aus. Bereits 1969 hatten sich Klubs in der Westschweiz zur «Association Romande de Football féminin» (ARFF) zusammengeschlossen. Die Gründung der SDFL in Bern stellte 1970 einen nationalen Schlüsselmoment dar. Kurz darauf erfolgte auch der Anpfiff zur ersten Schweizer Meisterschaft mit 18 Teams in drei geografischen Gruppen. In der Saison 1975/76 trugen Fussballerinnen dann erstmals einen nationalen Cup-Wettbewerb aus.


Die «Damenliga» war dem ZUS (Zusammenschluss der unteren Serien) und somit dem SFV angegliedert, aber von einer Integration konnte noch keine Rede sein. Der SDFL durften nur Klubs beitreten, die sich einem SFV-Männerverein als Sektion angeschlossen hatten. Die Gründung von selbständigen «Damenvereinen» war nicht mehr möglich. Die Bezeichnung «DFC» für Frauenteams hielt sich bis 1993.


Ebenfalls im Jahr 1970 nahmen 16 erstmals einberufene Nationalspielerinnen unter dem Trainer Jacques Gaillard an der ersten inoffiziellen FIEFF-Weltmeisterschaft in Italien teil. 1972 gaben die Schweizer Fussballfrauen in Basel ihr offizielles Länderspieldebüt gegen Frankreich (2:2), wo Cathy Moser einen Doppelpack schnürte. Nach internationalem Erfolg Anfang der 1970er-Jahre stagnierten die guten Resultate in den 1980er Jahren. Die

Schweizerinnen konnten zwischen 1980 und 1988 nur 6 von 38 Länderspielen gewinnen.


In der Schweiz verlief diese Institutionalisierungsphase parallel zu politischen Errungenschaften wie etwa der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Auch der neue Verfassungsartikel von 1970 zum Schulsport-Obligatorium für Jungs und Mädchen («Jugend+Sport») charakterisierte diesen Gesinnungswandel. Der Doppel-Olympiasieg 1972 von «Maite» Nadig in Sapporo verlieh dem helvetischen Frauensport ebenfalls Auftrieb.


Erste Torschützin: Cathy Moser (links) erzielte 1972 beide Tore beim 2:2 gegen Frankreich (Keystone)
Erste Torschützin: Cathy Moser (links) erzielte 1972 beide Tore beim 2:2 gegen Frankreich (Keystone)

3. Integrationsphase (1993–2015)


Diese dritte Phase begann 1993 mit der Integration des Frauenfussballs in den SFV und dauerte bis zur erstmaligen WM-Qualifikation 2015. Dennoch blieb das Engagement für den helvetischen Fussball der Frauen noch fast ein Jahrzehnt ehrenamtlich. Erst 2002 schuf der SFV die erste bezahlte Stelle zu 50% für den Bereich Frauenfussball.


Aufgrund von personellen, finanziellen und organisatorischen Problemen wurde die SDFL 1993 aufgelöst und in die SFV-Regionalverbände eingebunden. In den 1990er-Jahren stagnierten die SFV-Mitgliederzahlen, wodurch Fussballerinnen willkommen waren. Mit Hansruedi Hasler als Technischem Direktor beim SFV hatten die Fussballerinnen in der Schweiz einen gut positionierten Befürworter. So wurde etwa die Mädchen-Kategorie

«Piccola» 1995 aufgehoben und durch den inklusiven «Kinderfussball» ersetzt. Die Integration der SDFL in den SFV fiel zeitlich mit dem weltweiten Frauenfussball-Boom der 1990er-Jahre zusammen. In Atlanta wurde das Fussballspiel 1996 für Frauen erstmals olympisch. 1998 zeichnete der SFV mit Sonja Spinner die erste «Fussballspielerin des Jahres» aus.


In den 1990er-Jahren lag das Medieninteresse an Schweizer Fussballspielerinnen vor allem abseits des Rasens. Der Vereinsvorstand des FC Wettswil-Bonstetten hatte im April 1994 sein Frauenteam aufgelöst aufgrund des «Auslebens von abnormalen Veranlagungen», wie der «Blick» schrieb. Zudem verzerrte das Boulevardblatt die Tatsachen durch Schlagzeilen wie «Sex-Skandal im Fussballklub». Nationale und internationale Medien berichteten breit darüber. Immerhin liess sich der Regionalverband Zürich nicht davon beeinflussen und verweigerte eine Teamauflösung aus homofeindlichen Gründen. Nach diesen Vorkommnissen ebbte das öffentliche Interesse am Frauenfussball wieder ab.


2004 nahm sich der SFV mit dem ersten Ausbildungszentrum für Mädchen in Huttwil ernsthaft der weiblichen Nachwuchsförderung an. Dies erlaubte den jungen Fussballerinnen, Schule und Sport zu vereinen. Schon beim ersten Huttwil-Jahrgang wurde eine gewisse Ramona Bachmann von Scouts entdeckt und zu einem schwedischen Spitzenklub transferiert.


Der erste eigenständige Frauenfussballklub der Schweiz entstand 2004 in Sursee und hiess «LUwin.ch». Dies löste eine Eigenständigkeitswelle aus, woraus etwa der FFC Bern oder der FFC Zuchwil 05 hervorgingen. Bald schon schlossen sich eigenständige Frauenvereine männlichen Profiklubs an. GC Zürich förderte 2008 als erster Super-League-Verein den weiblichen Spitzenfussball und spannte mit dem FFC United Schwerzenbach zusammen. Kurz darauf gab Stadtrivale FCZ die Kooperation mit dem FFC Zürich Seebach bekannt. Fortan hiessen die Topadressen für Fussballerinnen FCZ, BSC YB, GC oder FC Basel.


Nach knapp verpassten EM- und WM-Qualifikationen endete 2011 die siebenjährige Amtszeit von Béatrice von Siebenthal als Nati-Trainerin. Auf sie folgte 2012 die deutsche Ex-Nationalspielerin Martina Voss-Tecklenburg. Das erstmalige Engagement einer renommierten Internationalen an der helvetischen Seitenlinie leitete eine neue Ära ein.


4. Konsolidierungsphase (2015–heute)


Die Konsolidierungsphase (2015 bis heute) begann 2015 mit regelmässigen Qualifikationen der Schweizer A-Frauen-Nati für WM- und EM-Endturniere. Diese vierte Phase charakterisiert sich zudem durch erhöhte Sichtbarkeit, sportliche Medienaufmerksamkeit und Vermarktung der besten helvetischen Fussballerinnen.


2018 übernahm Tatjana Haenni das Ressort Frauenfussball beim SFV. Die Nationalspielerin, Trainerin sowie international erfahrene Funktionärin brachte den Schweizer Fussball wesentlich voran. Genau 50 Jahre nach der Gründung der «Damen-Liga» sass mit Haenni ab 2020 auch erstmals eine Frau in der SFV-Geschäftsleitung. Im Juni 2024 wählte der SFV, als einer der weltweit letzten Fussballverbände, mit Christelle Luisier Brodard und Aline Trede erstmals zwei Frauen in seinen einflussreichen Zentralvorstand. Allerdings handelte es sich explizit nicht um Vertreterinnen des Frauenfussballs.


Haenni nahm als SFV-Direktorin auch diskriminierende Strukturen ins Visier. So sorgte 2022 eine doppelte Prämienanpassung für Aufsehen. Die Sponsorin Credit Suisse wollte bei WM-und EM-Endrunden dieselben Qualifikationsprämien für Männer und Frauen ausschütten. Ab 2024 glich auch der SFV «partnerbezogene Erfolgsprämien» sowie Bonuszahlungen an. Trotzdem konnte von «equal pay» keine Rede sein, insbesondere in Bezug auf Gelder von FIFA und UEFA. Mit der AXA und Carl F. Bucherer stiegen noch weitere Firmen ins Sponsoring der Fussballerinnen ein. Zudem kam eine Medienpartnerschaft mit der SRG zustande.


Seit der Saison 2020/2021 heisst die höchste Schweizer Spielklasse Axa Women’s Super League (AWSL). Wie bei den Männern gilt eine Spielerin in der Schweiz schon ab einem Verdienst von 500 Franken pro Monat als Profi. Die meisten AWSL-Spielerinnen arbeiten neben dem Fussball immer noch Vollzeit, gehen zur Schule oder studieren.


Im Juni 2022 sorgten 10’022 Fans in Zürich für eine Rekordkulisse im Spiel der Frauen-Nati gegen England. Nur zwei Jahre später wurde diese Marke gegen Deutschland, ebenfalls im Letzigrund-Stadion, mit 17’306 Fans pulverisiert. Im März 2025 verzeichnete ein AWSL-Spiel in Bern zwischen YB und GC mit 10’647 Zuschauenden einen neuen Ligarekord. Trotz dieser beachtlichen Entwicklung weisen die meisten AWSL-Matches eine bescheidene Anzahl Fans auf. Immerhin werden einige Partien seit 2022 auch im Schweizer Fernsehen gezeigt, was die Sichtbarkeit des Schweizer Frauenfussballs enorm gesteigert hat. Der Ligabetrieb steht jedoch nach wie vor im Schatten der Nati.


Ein grosser Coup ist SFV-Präsident Dominique Blanc und seiner neuen «Direktorin Frauenfussball» Marion Daube mit der Heim-EM 2025 gelungen. Zudem wird die Nati mit Pia Sundhage und Nadine Angerer seit 2024 von zwei Ex-Fussballerinnen und Trainerinnen von Weltformat gecoacht. Diese Konstellation stellt den Schweizer Frauenfussball ins Rampenlicht und könnte als Motor für die Zukunft wirken.


Zuschauerrekord: Im Frühling kamen zweimal über 10'000 Zuschauende zum Spiel YB - GC (Keystone)
Zuschauerrekord: Im Frühling kamen zweimal über 10'000 Zuschauende zum Spiel YB - GC (Keystone)

Bilanz und Ausblick


Die fünfte Phase im Schweizer Frauenfussball ist noch nicht angebrochen, obwohl die Frauen-Nati mittlerweile viel Aufmerksamkeit erhält. Die neue Phase würde sich durch eine ganzheitlichere strukturelle Verankerung innerhalb des SFV sowie eine Professionalisierung der Fussballerinnen in Schweizer Klubs auszeichnen. Dabei werden aber nicht etwa überrissene Gehälter, fragwürdige Transfergeschäfte oder theatralische Foulszenen aus dem Männerfussball angestrebt. Professionalisierung würde heissen, dass AWSL-Fussballerinnen


als «Nichtamateure» (das SFV-Reglement kennt nur die männliche Form) vertraglich abgesichert sind und von ihrem Sport als Hauptberuf ordentlich leben können. Dies ist in der Schweiz für die grosse Mehrzahl helvetischer Topfussballerinnen noch nicht selbstverständlich.


Die im Rahmen der UEFA Euro 2025 formulierten Legacy-Ziele des SFV sind ambitioniert. Die Wirksamkeit dieser Massnahmen wird sich jedoch erst nach 2027 beurteilen lassen. Unabhängig davon: Seriöser und nachhaltiger Fortschritt setzt zwingend strukturelle und somit machtpolitische Veränderungen innerhalb des SFV voraus. Die Geschichte des Schweizer Frauenfussballs lässt sich mit den bekannten Worten von Mahatma Gandhi zusammenfassen: «Zuerst ignorieren sie Dich, dann lachen sie über Dich, dann bekämpfen sie Dich, und dann gewinnst Du.»

 

Dr. Marianne Meier ist Historikerin und Sportpädagogin an der Universität Bern. Sie gilt nicht nur als Expertin zu Geschlecht im Sportkontext und Frauenfussball, sondern kickt das runde Leder auch selbst fürs Leben gern.




 





 
 
 

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