Jetzt darf Silja sein wie Sarah und Stéphane
- buehlerlivia
- 7. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Silja Horber will schon als kleines Mädchen eiskunstlaufen, muss sich aber lange gedulden. An den World Winter Games im März in Turin gewinnt die 32-jährige Zürcherin in ihrer Kategorie nun Gold. Eine Geschichte über Berührungsängste, Beharrlichkeit und Durchhaltewillen. Simon Scheidegger über Silja Horber

Es ist ein sonniger Tag Ende April. In den Strassen Zürichs schlendern ein paar Menschen vorsichtig enthusiastisch in ihren Sommertenüs mit kurzen Hosen, Tanktop und Flipflops. Im Sportzentrum Heuried, fast am Ende der Tramlinie 14, sind aber auch an diesem Tag Daunenjacke und Handschuhe Trumpf. Und natürlich Schlittschuhe.
Während poppige Musik aus den Boxen dröhnt, drehen zahlreiche Menschen ihre Runden auf der Eisfläche des Eislaufclubs Heuried. Auch Silja Horber gleitet an diesem Mittwoch übers Eis. Zusammen mit ihrer Trainerin Michelle Rupff übt sie eine Pirouette. Während Rupff genau auf Horbers Bewegungen und Haltung achtet, versucht diese konzentriert, ihre Füsse in die richtige Position zu bringen, manchmal hält sie sich am Arm ihrer Trainerin fest, um das Gleichgewicht zu halten. Auch wenn es anstrengend ist – etwas verschwindet während dieses Trainings nie aus Horbers Gesicht: ihr Lächeln.
Ein paar Minuten später sitzt die 32-Jährige auf einer Bank ausserhalb der Eishalle. Die Daunenjacke ist im Rucksack verstaut, stattdessen trägt sie jetzt eine schwarze Sonnenbrille. Aber das Lächeln, das ist immer noch da. Weil sie in den kommenden anderthalb Stunden über etwas reden kann, was ihr sehr viel bedeutet: Eiskunstlauf.
Erst Ski, dann Schlittschuhe
Wer Horber auf dem Eisfeld herumkurven sieht, wer merkt, wie sie links und rechts von Leuten begrüsst wird, wenn sie durch die Gänge des Sportzentrums Heuried läuft, könnte meinen, es sei das Normalste der Welt. Doch die Zürcherin musste hart kämpfen dafür, ihrer Leidenschaft nachgehen zu können.
1997 ist Horber an einen Kindergeburtstag auf der Kunsteisbahn Dolder eingeladen. Während die anderen Kinder sich auf dem Eis austoben, muss die knapp 5-jährige Silja vom Restaurant aus zuschauen. Sie lebt nach einer Frühgeburt mit Cerebralparese, kann zwar laufen, hat aber bisweilen unter anderem Mühe mit dem Gleichgewicht. Deshalb erachtet es die Mutter als zu riskant, ihre Tochter aufs Eis zu lassen. Also drückt Horber ihr Gesicht ganz nah an die Scheibe des Restaurants, um ja nichts zu verpassen.
In diesem Moment wird eine Faszination entfacht, die mit der Zeit nur wächst. Und in den kommenden Jahren wird sie ihren Eltern immer wieder in den Ohren liegen und sie bitten, endlich auch die Schlittschuhe schnüren zu dürfen. Die Mutter stellt die Bedingung, dass Silja erst sicher auf den Skiern stehen müsse, bevor sie aufs Eis gelassen werde. Also geht Silja nach Flims in die Skischule, später absolviert sie einen Ferienkurs und kann endlich aufs Eis. Damals ist sie knapp 12 Jahre alt. «Ich habe einfach nicht locker gelassen», sagt Horber und lacht.
Trainieren statt ausschlafen
In ihren Worten schwingt aber nicht nur Freude, sondern auch eine grosse Genugtuung mit. Dass sie sich durchgesetzt hat gegen die Widerstände, die Zweifler, die Ängstlichen, die es sich nicht vorstellen können wollten, dass eine Frau mit körperlicher Behinderung Eiskunstläuferin sein könnte. Die mehr Gefahren sehen wollten als Chancen. Die fragten «Was, wenn sie umfällt und sich verletzt?», anstatt Vertrauen zu schenken und ihr zu sagen: «Du schaffst das.»
Heute ist Silja Horber die erste Eiskunstläuferin mit Behinderung in der Schweiz, und sie ist Mitglied des Eislaufclubs Heuried. «Richtig, richtig, richtig Mitglied», betont sie und strahlt. Ausgrenzung und Berührungsängste aufgrund ihrer Behinderung hat die Zürcherin in ihrem Leben zur Genüge erlebt, deshalb weiss sie, dass das, was sie in ihrem Club hat, keine Selbstverständlichkeit ist.
Und genau deshalb passt dieser Sport so wunderbar zu Horber. «Im Eiskunstlaufen fällst du um und stehst auf. Immer und immer wieder», sagt sie. «Es ist wie im Leben.» Sie erinnert sich an ihr erstes Mal auf dem Eis, als sie von zwei Personen gestützt wurde und doch immer wieder am Boden landete. Oder daran, als sie jeweils nach einer strengen Woche bei der Arbeit samstags um 8 Uhr morgens mit ihrer Trainerin aufs Eis ging und stundenlang übte. Silja hat über die Jahre eine bemerkenswerte Beharrlichkeit entwickelt, mit der sie ihre Ziele verfolgt. Und doch – ohne zwei ganz bestimmte Personen, sagt Horber, wäre sie nie dorthin gekommen, wo sie jetzt ist. Sarah Meier und Stéphane Lambiel.
Mitfiebern mit Meier und Lambiel
Als die beiden Schweizer Eiskunstlauf-Asse bei den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin laufen, klebt Horber förmlich vor dem TV-Bildschirm. Sie sieht, wie Meier (heute van Berkel) Rang 8 belegt. Lambiel sichert sich die Silbermedaille und lässt Horber auf dem Sofa jubeln. Fortan sammelt die Zürcherin alles, was sie zu ihren beiden Idolen finden kann. In einem Ordner trägt sie alle Zeitungsartikel zusammen. Und im Französischunterricht strengt sie sich besonders an, weil sie verstehen will, was Lambiel in Interviews sagt. «Es ist ein grosses Geschenk, dass ich in der Zeit gross werden konnte, in der die beiden ihre Karriere hatten», sagt Horber. «Sie haben mir meinen Mädchentraum auf Weltniveau gezeigt. Dank ihnen habe ich angefangen zu träumen.»
Insofern ist es ein schöner Zufall, dass Horber, die in einem Teilzeitpensum bei der Behindertenseelsorge der Katholischen Kirche des Kantons Zürich arbeitet, ihren grössten sportlichen Erfolg in derselben Stadt bejubeln konnte, in der sie einst mit Meier und Lambiel mitgefiebert hatte. Im März nahm sie an den World Winter Games von Special Olympics teil. Horber erzählt, wie nervös sie gewesen sei vor ihrer Kür. Schliesslich habe sie nur ein kurzes Training absolvieren können. Und die Hauptprobe in der Vorwoche in Zug sei auch missglückt. Horber fürchtet, dass sie auf dem Eis die Orientierung verliert oder ein Element vergisst. Doch als sie den Rink des PalaTazzoli betritt und die Musik zu spielen beginnt, sind alle Zweifel, Sorgen und Ängste wie weggeblasen.

Die unverwechselbare Ausstrahlung
Die Schweizerin überzeugt die Punktrichter mit ihrer Darbietung, lässt die Konkurrentinnen aus den USA, Mexiko, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Südkorea hinter sich und holt die Goldmedaille. Nie für möglich gehalten hätte sie das, sagt Horber. Für Michelle Rupff ist der Sieg ihrer Athletin indes nicht ganz so überraschend. «Silja ist mit ihrer unverwechselbaren Ausstrahlung aufs Eis gegangen. Man hat ihr die Freude jede Sekunde angemerkt, und sie hat das Publikum berührt», sagt die Trainerin, die seit Oktober 2021 mit Horber zusammenarbeitet. Zwei- bis dreimal pro Woche stehen die beiden zusammen auf dem Eis, studieren Elemente ein oder feilen an bestehenden, wobei Horber nicht primär mit dem nächsten Wettkampf im Kopf trainiert. Sie sagt: «Ich habe so lange warten müssen, um überhaupt laufen zu dürfen. Ich will einfach schön eislaufen und Spass haben.»
Wenn Horber über ihre Leidenschaft spricht, macht sie das gerne anschaulich. Sie steht auf und winkelt ihr linkes Bein an, die Arme streckt sie dabei seitlich von sich. «Das ist der Storch», erklärt sie. Es ist eines von zahlreichen Elementen, die sie in einer Kür einbauen kann. Rupff erarbeitet mit ihr über mehrere Wochen eine Choreografie. Das Wichtigste dabei sei, sagt die Trainerin, dass sich Horber darin wiederfinde. Ästhetik ist ein zentraler Faktor. Horber mag es, ihre Frisur machen zu lassen und auf dem Eis ein schönes Kleid anzuziehen. Sie sagt, es sei für sie nicht immer einfach gewesen, sich und ihren Körper zu akzeptieren. «Aber», und da ist es wieder, dieses Lachen, Eiskunstlauf helfe ihr zu sagen: «Ich bin schön.»
Simon Scheidegger ist Sportredaktor bei Keystone-SDA. Auch er lebt mit Cerebralparese. Aufs Glatteis hat sich der Berner jedoch noch nicht getraut – zumindest nicht im wortwörtlichen Sinn.
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