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Das Multitalent im Schatten

Sandra Graf startet in Tokio zu ihren siebten Paralympics. Die 51-Jährige hat sich in drei Sportarten an die Weltspitze hochgearbeitet, stand aber trotz zahlreicher Erfolge meist weniger im Fokus als andere.


Simon Scheidegger über Sandra Graf



Sandra Graf sitzt auf einer Rampe im Velodrome in Grenchen. Sie berät sich mit ihren Betreuern und begutachtet ihr Handbike. Auf den letzten Testrunden ist noch nicht alles wie gewünscht gelaufen. Die Appenzellerin sieht den Besucher am Rand, grüsst freundlich und sagt entschuldigend, es werde noch einen Moment dauern, sie müsse noch einmal ein paar Runden drehen. Es ist ein Vormittag im April, und Perfektion ist oberstes Gebot.


Eine halbe Stunde später sitzt die 51-Jährige im Restaurant nebenan und blickt auf ihre Karriere als Sportlerin zurück. Wer die Appenzellerin ihre Runden drehen gesehen hat, kann sich kaum vorstellen, dass sie jemals etwas anderes gemacht haben soll, als Handbike zu fahren. Doch den ersten grossen Höhepunkt erlebt Graf nicht auf Rädern, sondern im Schnee, an den Paralympics 1994 in Lillehammer. Als 24-Jährige startet sie in Norwegen unter ihrem Mädchennamen Mittelholzer in Super-G, Riesenslalom und Slalom. Ihr Unfall, seitdem sie nach einem Sturz von den Schaukelringen im Turnverein querschnittgelähmt ist, ist da gerade einmal zweieinhalb Jahre her. Die Medaillen verpasst sie zwar, aber dennoch bezeichnet Graf diesen ersten Grossanlass als eine wertvolle Erfahrung, die eine wichtige Erkenntnis mit sich brachte: «Am Anfang hatte ich das Gefühl, ich müsste allen Leuten beweisen, wie gut es mir nach meinem Unfall schon geht. Aber dann habe ich gemerkt: Ich mache den Sport für mich, nicht für jemand anderen.»


Die Schraube und der Sturz


Nach Lillehammer entscheidet sich Graf gegen das Skifahren und setzt stattdessen auf die Leichtathletik. Nicht, weil sie sich auf den Ski nicht wohlfühlen würde. Im Gegenteil. Als ausgebildete Skilehrerin ist der Schnee eigentlich Grafs Element. Doch ein Herzenswunsch ist in diesem Moment stärker als die Leidenschaft. Graf will mit ihrem Mann Martin eine Familie gründen, und da sie als Skiathletin oft von zu Hause weg wäre, wechselt Graf vom Monoskibob in den Rennrollstuhl.


Die Familie stand und steht für die gelernte Detailhandelsangestellte immer an erster Stelle. Das wird im Gespräch mehrmals deutlich. Es hindert Graf indes nicht daran, sich als Leichtathletin kontinuierlich der Weltspitze zu nähern. In Sydney ist sie 2000 erstmals auch bei Paralympischen Sommerspielen am Start, verpasst Edelmetall im Marathon knapp. Es ist ein erstes Herantasten an eine Paralympische Medaille, das nicht erahnen lässt, dass die Beziehung Grafs zum grössten globalen Sportanlass in der Folge gelinde gesagt kompliziert verläuft: Als sie 2004 in Athen am Start steht, ist ihr Weltrekord über 5000 Meter in Rivera knapp drei Wochen her. Entsprechend gehört sie über diese Distanz zu den Favoritinnen auf Gold. Doch während des Rennens löst sich eine Schraube, sodass die Athletin keine Kontrolle mehr über das Vorderrad hat. Sie kämpft sich als Sechste ins Ziel, statt Gold gibt es Tränen der Enttäuschung. Und im Vogelnest von Peking ist sie vier Jahre später über dieselbe Distanz wiederum lange auf Medaillenkurs, ehe ein von ihrer Teamkollegin Edith Hunkeler verursachter Massensturz 500 Meter vor dem Ziel die Medaillenträume zunichtemacht. Beim Wiederholungsrennen wird Graf Fünfte. «Ich hatte lange Pech», sagt sie rückblickend. Entsprechend gross ist die Erleichterung dann einige Tage später, als sie als Dritte im Marathon endlich ihre erste Paralympische Auszeichnung in Empfang nehmen kann.


Lohn und Symbol zugleich


Um sich den Goldtraum zu erfüllen, braucht es noch einmal einen Tausch des fahrbaren Untersatzes. Aus der Leichtathletin wird vorwiegend eine Handbikerin. Es ist kein geplanter Wechsel. Als sie 2008 ein Handbike bestellt habe, habe sie primär für die Leichtathletik andere Trainingsreize setzen wollen, erklärt Graf. Sie merkt indes schnell, dass ihr das Velofahren nicht nur gefällt, sondern dass sie durch die Basis, die sie punkto Ausdauer und Kondition vom Marathon mitbringt, auch würde vorne mitfahren können. 2010 gewinnt sie an ihrer WM-Premiere in Kanada zweimal Silber. Mittlerweile ist sie nicht nur 14-fache Medaillengewinnerin an Weltmeisterschaften und zweifache Gesamtweltcupsiegerin, sondern auch stolze Besitzerin einer Paralympischen Goldmedaille. Am 5. September 2012 hat das Warten ein Ende. Graf legt das Zeitfahren über 16 Kilometer auf der Rennstrecke Brands Hatch südöstlich von London am schnellsten zurück. Auch diesmal läuft zwar nicht alles reibungslos, das Messgerät fällt aus, und zeitweise verspürt Graf Schmerzen im Arm. Doch diesmal lässt sie sich nicht aufhalten. Und im Ziel fliessen Tränen der Freude.


Diese Goldmedaille ist der Lohn für eine aussergewöhnliche Hartnäckigkeit, für den unbändigen Willen einer Athletin, die trotz zahlreicher Rückschläge und suboptimaler körperlicher Voraussetzungen – da Graf als Erwachsene in den Rollstuhl kam, sind ihre Beine deutlich schwerer als bei vielen Konkurrentinnen – nie aufgab. Die Auszeichnung in London wird aber auch zum Symbol dafür, dass Graf ihre Erfolge immer irgendwie im Schatten anderer bejubeln musste. Als im selben Jahr die Sportlerin bzw. der Sportler des Jahres gewählt wird, fehlt Graf unter den Nominierten. Neben den beiden Goldmedaillengewinnern Edith Hunkeler und Heinz Frei wird ihr Silbermedaillengewinner Marcel Hug vorgezogen. Graf sagt, mittlerweile lege sie keinen Wert mehr auf derartige Dinge. Aber es habe schon Momente gegeben, an denen sie zu kämpfen gehabt und die Wertschätzung vermisst habe.


Die «Team-Mama» mit den Jasskarten


Heinz Frei kennt Graf schon seit vielen Jahren. Und die beiden verbindet nicht nur eine Freundschaft, sondern auch die Errungenschaft, in drei verschiedenen Sportarten bei Paralympics angetreten zu sein. Als Graf ihre Premiere auf den Ski feierte, war Frei als Langläufer unterwegs, danach waren sie jahrelang Teamkollegen in der Leichtathletik, heute gehören beide zum Nationalkader der Para-Cycler. Als Frei auf seine langjährige Weggefährtin angesprochen wird, sprudeln die Anekdoten nur so aus dem 63-Jährigen heraus. Der erfolgreichste Rollstuhlsportler aller Zeiten zeichnet das Bild einer unternehmungslustigen, ehrgeizigen Frau, der eine gute Stimmung im Team am Herzen liegt. Er bezeichnet sie als «Team-Mama», weil sie immer Jasskarten oder sonstige Spiele dabei hat. «Sandra ist sehr wichtig fürs Teamgefüge», sagt Frei. Auch der Solothurner stellt fest, dass Graf lange das Label der ewigen Zweiten hinter Edith Hunkeler angehaftet sei und sie nie dieselbe mediale Aufmerksamkeit genossen habe wie andere Athletinnen und Athleten. «Vielleicht war Sandra phasenweise zu wenig egoistisch, zu lieb», meint Frei. Jetzt als Handbikerin habe sie mehr Biss, sei mental sehr stark und dementsprechend erfolgreicher. Als sie in London neben Gold im Zeitfahren auch Bronze im Marathon holte, stieg sie in den erlauchten Zirkel derjenigen auf, die an denselben Spielen in unterschiedlichen Sportarten Medaillen holten. Wie hoch dieser Erfolg zu werten ist, weiss auch Frei. Er sagt: «Die Spezialisierung ist heute so weit fortgeschritten, dass dies kaum mehr möglich ist.»


Die Lücke im Palmarès


15 bis 20 Stunden trainiert Graf in Zusammenarbeit mit der Sportlerschule Appenzellerland wöchentlich, manchmal schliesst sie sich auch Frei an. Der Fokus ist längst auf die Spiele Anfang September in Tokio gerichtet, ihre siebten Paralympics. Die Strecke, wiederum eine umfunktionierte Rennstrecke, hat sie nur im Simulator testen können. Da Graf wie schon in Rio 2016 in derselben Klasse antreten muss wie die beinamputierten Athletinnen, ist sie bezüglich Medaillenzuwachs nur verhalten optimistisch. «Ich würde gern eine gewinnen, aber es wird schwierig.» Frei traut ihr jedoch den Exploit absolut zu.


Mitte Juni steht im portugiesischen Cascais die WM an. Natürlich würde Graf gerne als Weltmeisterin nach Tokio reisen und damit eine Lücke in ihrem Palmarès schliessen. Bei ihren 14 WM-Medaillen fehlt die goldene Auszeichnung. «Ich werde probieren, das zu ändern», sagt Graf. Die Paralympics knapp drei Monate später würden dann sicher einer der letzten Grossanlässe, die sie bestreitet. Und dann? Zeit, sich in einer vierten Sportart auf paralympisches Niveau zu hieven? Graf lacht. «Uh, nein!» Sie freue sich auf schöne Velotouren mit der Familie, wenn es dann nicht mehr ums Trainieren gehe, sondern einfach darum, Spass zu haben und die gemeinsame Zeit zu geniessen. Vorerst gilt es aber noch ernst. Am Nachmittag will Graf – im hügeligen Gais wohnhaft — in Grenchen noch eine kurze Tour der Aare entlang machen. «Wenn das Gelände schon mal flach ist, muss ich das ausnutzen.»


Simon Scheidegger ist als Sport-Journalist sehr vielseitig unterwegs. Selbst ist er nicht ganz so polysportiv. Als leidenschaftlicher Rollstuhlbasketballer geht er regelmässig auf Korbjagd, und er hofft, auf Velotouren bald ein wenig auf den Spuren Sandra Grafs zu wandeln. Das eigene Handbike ist bestellt.




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