Sie war eine der erfolgreichsten Schweizer Leichtathletinnen. 2021 erkrankte Selina Rutz-Büchel an Corona, bis heute leidet sie unter den Folgen. 2022 wurde sie erstmals Mutter und wollte ihr Comeback geben. Ende Jahr aber verkündete sie ihren Rücktritt. Über all das und über ihre beeindruckende Karriere spricht die 31-Jährige im Interview.
Fabian Ruch im Gespräch mit Selina Rutz-Büchel

Die Frage zum Einstieg sei besonders bei Ihnen erlaubt: Wie geht es Ihnen?
Es geht aufwärts, ganz langsam. Die letzten eineinhalb Jahre waren mit meiner Long-Covid-Erkrankung und mit der Schwangerschaft eine intensive und phasenweise auch schwierige Zeit. Es gab immer wieder gesundheitliche Probleme. Als ich beispielsweise im Juni nach 14 Monaten das Gefühl hatte, endlich wieder gesund und beschwerdefrei zu sein, kam schon wieder der nächste Rückschlag. Jetzt kann ich sagen: Es geht besser. Leider geht es nicht gut genug, als dass ich meine Karriere als Leichtathletin fortsetzen könnte.
Sie gaben Mitte November Ihren Rücktritt bekannt. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?
Es war eine sehr schwierige Entscheidung, das ist ja klar, nach so langer und schöner Zeit. Ich musste leider nach so vielen gesundheitlichen Problemen feststellen, dass es keinen Sinn ergibt, es noch einmal im Spitzensport zu versuchen. Als ich mich Mitte Oktober endlich bereit fühlte, das Training wieder voll aufzunehmen, kam es erneut zu heftigen Komplikationen. Ich fühlte mich wieder kränklich, das Nervensystem kam nicht auf Touren, ich hatte Schwindelgefühle. Mein Körper war mit den Trainingsreizen überfordert. Ich spürte, dass ich mit dem Training von meinem Körper etwas verlangte, das er nicht geben konnte. Ich bin nun sehr froh, den Entscheid zum Rücktritt getroffen zu haben und dass damit mein Körper und mein Geist wieder auf gleicher Ebene zusammenarbeiten können.
Wie blicken Sie auf Ihre Karriere zurück?
Mit viel Freude und grosser Dankbarkeit, dass ich über so viele Jahre meine Passion zum Beruf machen durfte. Und weil ich sehr schöne, erfolgreiche Zeiten erlebt habe. Natürlich hätte ich mir ein anderes Ende meiner Laufbahn gewünscht. Ich hätte sehr gerne noch einmal zwei Jahre als Leichtathletin bestritten, die Olympischen Sommerspiele
2024 in Paris wären ein grosses Ziel für mich gewesen.
Wie gross ist Ihre Wehmut?
Es ist ja nicht so, dass ich von heute auf morgen realisierte, dass meine Karriere zu Ende ist. Nach meinen gesundheitlichen Problemen hatte ich damit rechnen müssen. Ich hatte eine tolle Zeit, die Leichtathletik bedeutet mir sehr viel. Das wird auch immer so bleiben. Irgendwann werde ich vielleicht meine Erfahrungen weitergeben und als Trainerin arbeiten. Derzeit bin ich als Mami sehr gefordert, deshalb werde ich meine Zukunft in aller Ruhe planen.
Wie äusserten sich die gesundheitlichen Komplikationen Ihrer Long- Covid-Erkrankung in den letzten 18 Monaten?
Mein Nervensystem wurde durch die Covid-Erkrankung längerfristig beeinträchtigt. Es war mir manchmal schwindlig, oder ich konnte nachts nicht in den Ruhemodus wechseln, wodurch ich oft mehrere Stunden wach lag. Doch sobald ich tagsüber wieder aktiv war und mit dem Training startete, funktionierte mein Körper einwandfrei und ich fühlte mich fit. Mit diesem Verhalten laugte ich meinen Körper bis zur totalen Erschöpfung aus. Es folgte der nächste Rückfall. Dieses Prozedere wiederholte sich. Die Rückfälle äusserten sich meist in Grippesymptomen wie Fieber, Husten und Müdigkeit. Oft lag ich für ein paar Tage im Bett, bis ich wieder langsam zu Kräften kam. Während der Aktivphasen hatte ich sehr viel Energie und fühlte mich fit, wodurch ich nicht wahrnahm, dass sich mein Körper in einem Ungleichgewicht befand.
Wann genau begannen die Probleme?
Im April 2021. Meine Covid-Erkrankung verlief vorerst relativ normal. Nach der Isolation und einem medizinischen
Check nahm ich das Training vorsichtig auf. Bei der Wiederaufnahme des Trainings litt meine Schlafqualität sehr stark. Ich erinnere mich daran, wie mein Trainer sagte, das sei vermutlich so, weil ich so lange rum gelegen sei. Im Training fühlte ich mich gut, ich hatte viel Energie und machte deshalb weiter. Nach rund zwei Wochen kam dann der erste grosse Crash. Ich litt erneut unter Grippesymptomen und realisierte schliesslich, dass ich mit dem Training meinen Körper total überlastet habe.
An ein geregeltes Training war nicht zu denken, oder?
Anfangs unternahm ich noch ein paar Versuche, das Training ganz vorsichtig wieder aufzunehmen. Alle meine Versuche endeten leider in einem Rückfall. Mein Körper rebellierte stark, das war auch mental eine schwierige Zeit für mich. Im Juni 2021 war dann klar: Jetzt brauche ich eine längere Trainingspause. Leider wurde es dann in dieser
Ruhe schlimmer, mit Schwindel, noch stärkeren Schlafstörungen, enormen Schwierigkeiten mit dem Nervensystem.
War ich irgendwelchen Reizen ausgesetzt, konnte mein Körper nicht damit umgehen. Auch zeichnete sich ab, dass ich an den Olympischen Sommerspielen in Tokio nicht würde teilnehmen können, was ein harter Schlag für mich war.
Erzählen Sie, was passierte, wenn Sie Reizen ausgesetzt waren.
Ich war ständig überfordert. Lief der TV, war das stressig für mich. Ich konnte nicht lesen, nicht den Laptop bedienen, war beim Einkaufen im Supermarkt desorientiert. Dank Physiotherapie im August 2021 bekam ich die Schwindelgefühle in den Griff. Ich denke, die durch die Schwangerschaft entstandene Hormonumstellung hat sich positiv auf meinen Gesundheitszustand ausgewirkt.
Also ging es Ihnen im Herbst 2021 wieder besser?
Ja. Aber es war wie eine Achterbahnfahrt. Immer, wenn ich den Eindruck gewann, ich sei 100 Prozent gesund, kam wieder ein Rückschlag, und ich musste wieder eine Pause einlegen und mich erholen. Mein Nervensystem reagierte immer noch sehr sensibel auf Reize jeglicher Art, welche immer wieder negative Auswirkungen auf meine Schlafqualität hatten. Kurz vor der Geburt meiner Tochter im April dieses Jahres wurde es deutlich besser.

Goldmedaille an der Hallen-EM über 800 m: Selina Rutz-Büchel 2017 in Belgrad (Keystone)
Wie verarbeiteten Sie das alles mental?
Das war eine grosse Herausforderung. Es gab sehr schwierige Phasen. Ich hatte zuvor immer zweimal am Tag trainiert, der Sport war wie eine Droge für mich, ich benötigte diese intensiven Belastungen. Ich war wie gespalten, ein Teil von mir schrie nach Sport, der andere Teil benötigte Ruhe.
Fielen Sie in eine Depression?
Es gab schon eine Phase, in der ich etwas depressiv gestimmt war. Das war im Juni 2021. Ich litt damals hormonell unter Sportentzug, und gleichzeitig wurde mir klar, dass ich meinen geplanten Start an den Olympischen Spielen im Sommer 2021 absagen muss. Ich akzeptierte dann recht schnell, dass es ist, wie es ist. Ich glaube fest daran, dass alles, was im Leben passiert, aus einem Grund passiert. Dass immer genau das geschieht, was ich für meine persönliche Entwicklung in diesem Moment brauche. Die Schwangerschaft und schliesslich die Geburt unserer Tochter halfen sicherlich, da ich dadurch in meinem Leben eine neue Aufgabe bekam.
Können Sie konkretisieren, wie Sie das meinen, dass alles im Leben für etwas gut sei?
Dieses Denken gibt mir Kraft. Es ist so ein Urvertrauen, das tief in mir drin ist. Weiter bin ich auch davon überzeugt,
dass der Körper sehr vieles heilen kann. Das sieht man ja beispielsweise daran, wie sich die Haut erholt, wenn man
sich geschnitten hat. Was ich aber unbedingt klarstellen will: Long Covid ist eine Riesenherausforderung, die leider
viele Menschen beschäftigt und noch beschäftigen wird. Meine Schwester ist auch davon betroffen, wir haben viel darüber gesprochen und einander helfen können. Wenn man jemanden kennt, der einem glaubt, was man erzählt,
weil diese Person das auch erlebt hat, dann ist das sehr hilfreich.
Heisst das, Sie stiessen auch auf Unverständnis?
Ja, wobei ich diesen Menschen keinen Vorwurf mache. Viele meinten beispielsweise, die Schlafstörungen hingen mit der Schwangerschaft zusammen. Long Covid gibt es noch nicht lange, da fehlen die Erfahrungswerte. Wenn jemand meine Aussagen anzweifelt, dann fühle ich mich nicht ernst genommen. Das ist nicht so ein schönes Gefühl. Doch mittlerweile kann ich all diese Menschen sehr gut verstehen. Die Ausmasse einer Long-Covid-Erkrankung übersteigen manchmal auch meinen eigenen Horizont. Ich bin momentan damit beschäftigt, mein Nervensystem aufzubauen und es wieder an Reize und Belastungen zu gewöhnen. Dieser Prozess geht langsam voran, und ich bin mir bewusst, dass auch weitere Rückschläge dazugehören. Darum entschloss ich mich ja auch zum Rücktritt. Nichts ist für die Ewigkeit.
Wann realisierten Sie eigentlich, dass Sie besonders talentiert sind als Leichtathletin?
Ich fing in der 2. Klasse mit dem Training in der Läuferriege Mosnang an. Das Training war sehr spielerisch gestaltet, der Spass stand im Vordergrund. Ich bestritt viele Läufe, ohne dass ich extrem ehrgeizig gewesen wäre. Es ging einfach Stufe für Stufe hoch, irgendwann trainierte ich auf der Bahn. Es gab nicht diesen einen Moment, an dem ich mich als starke 800-Meter-Läuferin etablierte. Ich probierte viel aus, lief lange Zeit auch 400 Meter und 1500 Meter.
Stimmt es, dass die 800-Meter-Disziplin der härteste Laufwettbewerb ist?
Das hört man immer wieder. Es ist schwierig, das so absolut zu sagen. Es benötigt ganz sicher eine spezielle Härte, weil viel Säure in den Körper kommt. Ich mag es, für eine kurze Zeit alles aus meinem Körper rauszuholen und vielleicht auch etwas zu leiden. Ich finde es mental viel härter, längere Distanzen zu laufen. Man ist bald im roten Bereich, es ist intensiv, oft liegt man nach einem Rennen am Boden und ist total ausgepumpt, es kann einem sogar
schlecht werden.

Schnell: 2020 in Bellinzona (Keystone)
Beschreiben Sie doch mal, wann es auf den 800 Metern richtig hart wird.
So richtig hart wird es, sobald die Säure in den Körper steigt. Es ist von Vorteil, wenn dies möglichst spät im Rennen passiert. Daher war meine Strategie immer, so lange wie möglich schön zu rollen und ohne viel Energie aufzuwenden, das Renntempo mitzulaufen. Am Schluss wird es am härtesten. Bei guten Rennen war ich mit meiner Aufmerksamkeit so im Moment und auf das Rennen konzentriert, dass ich die Säure und den Schmerz gar nicht wahrnahm.
Wie schwierig war es für Sie, einerseits voll auf den Sport zu setzen und andererseits eine Ausbildung zu machen?
Das war teilweise schon kompliziert, aber ich war jung und voller Energie. Meine Lehre zur Raumplanungszeichnerin
dauerte vier Jahre, anschliessend besuchte ich noch die Berufsmittelschule. In dieser Zeit trainierte ich abends. Danach arbeitete ich auf meinem Job, zuerst 50 Prozent, dann immer weniger, irgendwann waren es 20 Prozent, und im Jahr der Olympischen Spiele 2016 in Rio hörte ich ganz auf. Seither war ich noch sporadisch arbeitstätig und legte den Fokus auf den Sport.
Gibt es in Ihrer Disziplin das beste Alter?
Das ist eine spannende Frage. Früher hätte ich geantwortet: mit 25 Jahren. Heute, mit 31, sehe ich das anders (lacht). Es gibt sehr junge Läuferinnen, die ein hohes Tempo gehen können, und es hat auch Frauen, die mit weit über 30 noch sehr schnell sind. Es hängt sicherlich auch damit zusammen, in welchem Alter mit spezifischem, intensivem Training gestartet wird. In der Pubertät war ich noch nicht sehr leistungsorientiert. Ich wollte einfach mit meinen Freundinnen laufen und hatte sehr viel Spass an den Trainings. Damals konnte ich mir nie vorstellen, einmal Spitzensport zu machen, und träumte noch nicht von den Olympischen Spielen. Rückblickend bin ich dafür sehr dankbar. Ich bin überzeugt, dass gerade in der Pubertät vielseitiges Training und genügend Erholung wichtig sind. Der weibliche Körper braucht auch viel Energie für die Entwicklung zur Frau.
Wie zufrieden sind Sie denn mit Ihrer Karriere?
Die letzten bald zwei Jahre haben mich gelehrt, dankbar zu sein für alles, was ich erlebt und erreicht habe. Ich war ohne grosse Verletzungen geblieben, war jahrelang auf hohem Niveau unterwegs, rannte die 800 Meter 2015 unter 1,58 Minuten. Höhepunkte waren sicher die zwei Hallen-EM-Titel. Ich bin auch recht stolz darauf, dass ich 2020 nach zwei schwierigen Jahren noch einmal meine Bestform aufbauen und eine 1,58-Minuten-Zeit laufen konnte. Das zeigte mir: Ich kann noch besser werden. Leider kam dann Long Covid dazwischen.
Sie ernähren sich vegetarisch und lehnten einmal einen Sponsor aus der Fleischindustrie ab. Was sagt das über Sie aus?
Das war eine schwierige Entscheidung. Dieser Sponsor unterstützt ein Team von Sportlerinnen und Sportlern aus verschiedenen Sportarten. Die gemeinsamen Events waren toll, der Austausch untereinander eine Bereicherung. Auch schätze ich diese Firma sehr, auf verschiedenen Ebenen machen sie tolle Sachen. Dennoch war für mich klar: Als Vegetarierin kann ich nicht mehr Werbeträgerin eines Fleischunternehmens sein. Ich möchte authentisch sein und stehe für meine Überzeugungen ein.
Hat es Sie geschmerzt, gerieten Sie während Ihrer Long-Covid-Phase in der Öffentlichkeit sportlich in Vergessenheit?
Nein, ich habe diese Ruhe auch etwas genossen, um mich um meine Gesundheit und um mich zu kümmern. Zeitweise
habe ich Anfragen abgesagt, weil ich nicht als Opfer dargestellt werden wollte. Ich sehe die ganze Erkrankung als Herausforderung und Chance, die mir auf persönlicher Ebene eine Weiterentwicklung ermöglichte.
Wie ist die finanzielle Situation als Mutter im Spitzensport?
Sicher viel besser als früher. Es gab viele Frauen, die dafür gekämpft haben, dass die Voraussetzungen für Mütter besser sind. Es gibt auch Beispiele wie Melissa Bishop, die nach der Geburt ihrer Tochter wieder sehr schnelle 800-Meter-Rennen gelaufen sind. Mich haben alle Sponsoren weiter unterstützt, das hat mich sehr gefreut. Wir Frauen haben in der Leichtathletik einen hohen Stellenwert, das ist in anderen Sportarten anders. Bei uns habe ich nie wahrgenommen, dass darüber geurteilt wird, wenn wir beispielsweise über 800 Meter länger unterwegs sind als die Männer. Wobei ich aber selber gespannt gewesen wäre, ob man als Mami auch noch so erfolgreich und schnell sein kann wie vorher. Leider werde ich das nicht mehr herausfinden können.
Fabian Ruch war in der Leichtathletik nie ein grosses Talent. Er fühlt sich bis heute in Ballsportarten zu Hause. Er erinnert sich aber heute noch daran, wie er in der Schule vor etwa drei Jahrzehnten einmal einen Wettkampf über 800 Meter absolvieren musste – und natürlich schon vor der Hälfte des Rennens völlig am Ende war, weil er seine Energie falsch eingeteilt hatte.
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