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Die Marathon-Queen

Manuela Schär ist die erfolgreichste Rollstuhl-Leichtathletin der Gegenwart. In den letzten Jahren ist die Luzernerin zur Dominatorin über die Marathon-Distanz geworden. Ihre historische Siegesserie will die 36-Jährige an den Paralympics 2021 in Tokio vergolden.


Simon Scheidegger über Manuela Schär





Als Manuela Schär die rechte Faust hebt und das rote Zielband vor ihr reisst, hat sie ein breites Lachen im Gesicht. Sie weiss, sie hat es geschafft. Sie weiss, dass sie mit diesem Sieg am London-Marathon 2019 sich nicht nur zum zweiten Mal zur Weltmeisterin über die 42,195 Kilometer krönt, sondern auch ihren Gesamtsieg in der World Marathon Major Series aus dem Vorjahr bestätigt.


Und das historisch Denkwürdigste, was die 36-Jährige an diesem Sonntag im April vor einem Jahr schafft: Als erste Athletin überhaupt gewinnt sie alle sechs Major-Marathons (Berlin, Chicago, New York, Tokio, Boston, London) in einer Saison.


Der Grand Slam ist perfekt.


Die Konstanz, mit der die Luzernerin ihre Siege einfährt, ist beachtlich. Auch bei den nächsten vier Starts ist sie ihren Konkurrentinnen überlegen. Zum Jahresabschluss stellt Schär am 17. November 2019 im japanischen Oita einen Weltrekord auf und verbessert ihre Bestmarke vom Berlin-Marathon 2018 um 71 Sekunden auf 1:35.42 Stunden. Diese eindrückliche Erfolgsserie könnte schnell das Bild vermitteln, dass der Rollstuhlleichtathletin plötzlich das Glück in den Schoss gefallen ist. Doch die Geschichte von Manuela Schärs Aufstieg zur Marathon-Queen ist vielmehr eine von Entbehrung und harter Arbeit, an deren Anfang eine grosse Enttäuschung steht.


Schärs kreisende Gedanken


2012 reist Schär mit grossen Ambitionen an die Paralympischen Spiele in London. Sie fühlt sich gut, die persönlichen Bestzeiten aus der Vorbereitung geben ihr Zuversicht, in der britischen Hauptstadt nach den zwei Medaillen 2004 in Athen (200 Meter/Silber, 100 Meter/Bronze) und der einen 2008 in Peking (200 Meter/Bronze) ihre Sammlung erweitern zu können. Doch Schär bleibt unter den Erwartungen, wird in ihren Rennen zweimal Fünfte und einmal Siebte. Als sie wieder in der Schweiz ist, muss sie Druckstellen behandeln lassen, und im Spitalbett beginnen die Gedanken zu kreisen: «Habe ich überhaupt noch Potenzial? Habe ich überhaupt noch Lust?» Schär spielt ernsthaft mit der Idee zurückzutreten. Doch es wird schnell klar: Der Ehrgeiz, die Eigenschaft, die Schär seit jeher auszeichnet, ist nach wie vor da. Heute sagt sie: «Ich bin sehr dankbar, dass es so gelaufen ist.»


Schär entschliesst sich, den Fokus künftig auf die Langstrecken zu legen – nicht nur auf der Bahn, sondern eben auch auf der Strasse. Bei ihrer Marathonpremiere in Padua qualifiziert sie sich für die WM 2013 in Lyon. Mal schauen, was drin liegt, denkt sie vor dem Rennen.


Danach ist sie Weltmeisterin.


Wäre ihr dieser Erfolg vor 2012 geglückt, hätte Schär womöglich falsche Schlüsse daraus gezogen, hätte beispielsweise gedacht, dass sie sich wohl auch im Marathon auf ihr Talent verlassen könne – wie als Teenager, als sie nach ihren ersten Runden im Rennrollstuhl bald zu den Schnellsten gehörte und Medaillen gewann, ohne im Training die Fleissigste gewesen zu sein. «Damals war ich schon etwas verwöhnt und genügsam», sagt Schär rückblickend. «Und das stimmte für mich.» Sie absolvierte ihre KV-Lehre bei Otto’s und hatte Zeit für andere Hobbys. «Aber ab einem gewissen Niveau reicht Talent nicht mehr. Da braucht es vor allem Fleiss und Willen.»


Perrets wegweisende Analyse


Schär spricht von einer «zweiten Karriere», die für sie nach den Paralympics in London begonnen habe. Eine Karriere, in der Trainer Claudio Perret nicht nur die Schwerpunkte verlagert, sondern sich das Sportlerinnenleben grundlegend und auf verschiedenen Ebenen verändert. Sei es bei der Balance zwischen Training und Erholung, der Ernährung, dem Schlaf oder dem Material. Alle Aspekte werden eingehend analysiert, im Bestreben danach, das Optimum herauszuholen.


Dazu gehört, dass sie ihr Arbeitspensum bei der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung in Nottwil auf 20 Prozent reduziert und jede Woche Rückmeldung zu den von Perret zusammengestellten Trainingsplänen gibt. «Sie musste lernen, was es heisst, Spitzensportlerin zu sein», sagt Perret.


Der Sportwissenschaftler erzählt, wie sie als Erstes an der Ausdauer gearbeitet hätten, schliesslich hatte Schär als Kurzstreckenathletin nie anderthalb Stunden am Stück fahren müssen. Seine Philosophie sei es, immer das schwächste Glied der Fähigkeitskette ausfindig zu machen und gezielt zu verbessern. Deshalb ist ihm auch wichtig zu betonen, dass sich Schär nicht von einem Moment auf den anderen zur Marathonspezialistin entwickelt habe. Vielmehr sei dies ein langer Prozess gewesen, die Summe ganz vieler Einzelteile, die hätten zusammenpassen müssen.


Und Schär sagt: «Ich musste viel professioneller und härter werden.» Früher auf der Bahn habe sie ein bisschen Regen schon gestört. Jetzt sei sie bei Marathons im Herbst zum Teil gefühlt mitten in der Nacht, bei Regen und Minustemperaturen an der Startlinie.


McFaddens langer Schatten


Solche Episoden sind ein Beleg für einen Reifeprozess, den die Luzernerin durchgemacht hat. Diese Reife manifestiert sich auch darin, dass sie ihren überraschenden WM-Titel in Lyon einordnen kann. «Ich wusste, dass ich wohl nicht gewonnen hätte, wäre Tatyana am Start gewesen», sagt Schär.


Tatyana ist Tatyana McFadden. Die Amerikanerin ist die erfolgreichste Rollstuhlleichtathletin der letzten Jahre. 17 Paralympische Medaillen und 24 Major-Marathons hat die gebürtige Russin gewonnen. Lange galt sie als unschlagbar. Entsprechend glücklich ist Schär, als sie sich regelmässig den zweiten Platz hinter McFadden sichern kann. «Das war ein Riesenerfolg für mich.» Aber irgendwann meldet sich wieder der Ehrgeiz, und Schär strebt nach mehr, will nicht nur «The Best of the Rest» sein, sondern auch einmal zuoberst auf dem Podest sein.


Doch selbst als Manuela Schär 2017 in Boston erstmals in einem Major-Marathon vor McFadden klassiert ist, muss sie schnell einmal merken, dass das nicht reicht, um aus dem langen Schatten der gut vier Jahre jüngeren Ausnahmeathletin zu treten. In der Szene und in den Medien werden Schärs Erfolge über die 31-Jährige lange nicht als vollwertig angesehen. Schliesslich, heisst es beispielsweise, komme diese ja aus einer Verletzung. Erst als sie Ende 2018 ihre Siegesserie startet, beginnt sich die Wahrnehmung der Schweizerin aus dem 2000-Seelen-Dorf Altishofen in der grossen Marathonwelt nachhaltig zu verändern.


«Ich bin niemand, der von allen Seiten Bestätigung braucht», sagt Schär. «Für mich ist wichtig, dass ich ein Rennen einordnen kann, dass ich für mich weiss, was gut oder weniger gut gelaufen ist.» Diese Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und von äusseren Einflüssen nicht ablenken zu lassen, ist ein weiterer Baustein zu Schärs Marathon-Dominanz. Wie eben auch der unbändige Wille, sich zu verbessern.

Andere Athletinnen, sagt Schär, hätten spezifische Stärken, die sie im Lauf eines Rennens je nach Situation ausspielen könnten. McFadden beispielsweise habe aufgrund ihrer Kraft und Schnellkraft Vorteile bei Steigungen und im Schlussspurt. Sie aber, so die 36-Jährige, sei in keinem Teilbereich überlegen.


Knutwil statt New York


Ihre Stärke sind Ehrgeiz, Hartnäckigkeit, Leidensfähigkeit. Sie habe «mega bügle» müssen, um den Anschluss an die Weltspitze zu schaffen, sagt Schär. Da keine andere Frau hierzulande auf einem ähnlichen Niveau trainierte, schloss sie sich bald einmal der Trainingsgruppe der Männer an, was sie nicht nur körperlich weiterbrachte, sondern auch auf taktischer Ebene, beispielsweise beim Windschattenfahren. «Ich habe immer an meinen Schwächen gearbeitet und mich nie auf das verlassen, was ich gut kann, sondern ich wollte immer an dem Schräubchen drehen, bei dem ich gegenüber den anderen das grösste Defizit habe.» Schär erzählt, wie sie im Vorfeld des New-York-Marathons immer wieder einen Hügel in Knutwil hochfahre, weil die Steigung dort vergleichbar sei mit derjenigen hoch zur Verrazano Bridge gleich zu Beginn des Rennens. Dass sie dabei leidet, ist ein Nebeneffekt, der ihr hilft, auch im Rennen über ihre Grenzen hinauszugehen und sie zu verschieben. «Ich bin mir gewohnt, dorthin zu gehen, wo es sehr, sehr weh tut.» Das sei aber normal im Leistungssport.


Perret sagt, er habe einen trainingsfreien Tag durchsetzen müssen, um für seine Athletin die so wichtige Balance zwischen Erholung und Training zu garantieren. Mittlerweile wolle sie diese Freizeit nicht wieder hergeben.


Rolle statt Strasse


Mit dem Training ist es in Zeiten einer globalen Pandemie ohnehin so eine Sache. Anfang November darf Schär die Infrastruktur in Nottwil noch benutzen. Sollte noch einmal ein Lockdown verhängt werden, müsste sie ihre täglich ein bis zwei Einheiten zu Hause auf der Rolle oder mit der Handkurbel absolvieren, wie schon von Mitte März bis Mitte Mai. Natürlich würde sie lieber normal und uneingeschränkt trainieren, sagt Schär. «Aber die Situation ist ja für alle gleich, und die Gesundheit ist wichtig.» Ihr Ziel, sich in Tokio endlich den Traum von Paralympischem Gold zu erfüllen, verliert sie deshalb nicht aus den Augen.


Tests zeigten Schär, dass sie bereit und in Form gewesen wäre in diesem Jahr. Nun wird sie mit Perret alles daran setzen, ihren leistungsmässigen Peak wiederum Ende August, Anfang September zu erreichen. Dabei wollen sie auch die Erfahrungen von Rio 2016 einfliessen lassen. In der brasilianischen Metropole blieb Schär ohne Medaille und war mit zunehmender Dauer der Wettkämpfe «mental ausgelaugt».


Pragmatismus statt Druck


Das soll diesmal anders sein. Obwohl sie wie schon in Rio auch auf der Bahn antreten will (400m, 800m, 1500m, 5000m), soll diesmal beim abschliessenden Marathon noch genügend Energie im Tank sein für den Angriff auf Gold. Perret sagt, Schär werde sicher mit mehr Selbstvertrauen am Start stehen als noch in Rio, und auch die Konkurrentinnen würden aufgrund ihrer Erfolge nun mehr Respekt haben. Aber der Trainer versucht auch, die Tragweite etwas zu relativieren, wenn er sagt, alle sechs Majors in einem Jahr zu gewinnen, sei mindestens ebenso hoch zu gewichten wie ein Sieg im Paralympischen Marathon (wenn nicht sogar höher), da dies ein Beleg von aussergewöhnlicher Konstanz über eine längere Zeit sei.


In einem einzelnen Rennen jedoch könne alles passieren. Auch wenn sich Perret natürlich wünscht, dass Schär ihren Goldtraum in der japanischen Hauptstadt verwirklichen kann, will er nicht unnötig Druck aufbauen. Er sagt: «Am Schluss ist es ein Rennen wie jedes andere auch. Und was Manuela gewonnen hat, kann ihr niemand mehr nehmen.»

An Manuela Schärs Ehrgeiz ändert diese pragmatische Sichtweise aber nichts. Sie weiss, dass sie viel weiter ist als in Rio, erfahrener, «robuster», wie sie es nennt. «Probieren wir's noch einmal», sagt Schär. Und ihr breites (Sieges)-Lachen ist wieder da.


Simon Scheidegger ist als Sport-Journalist sehr vielseitig unterwegs. Die Story mit Manuela Schär rief in ihm Erinnerungen hervor an die paar Runden, die er einst selbst auf der Anlage des Schweizer Paraplegiker-Zentrums gedreht hatte. Und an den Moment des Einsehens, dass aus ihm wohl nie ein Leichtathlet werden würde.

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