Sie ist eine der erfolgreichsten Schweizer Sportlerinnen – und nicht mehr nur ein riesiges Talent. 2022 gewann Ditaji Kambundji an der Europameisterschaft in München die Bronzemedaille. Die 100-m-Hürdenläuferin steht vor einer grossen Zukunft, zumal sie sich nun voll auf den Sport konzentrieren kann. Im ausführlichen Gespräch spricht die 20-Jährige über ihren Werdegang und ihre Schwester Mujinga Kambundji, über ihre Familie und ihre Ziele – und über Stürze, Tränen sowie die positiven Auswirkungen der Pandemie auf ihre Trainingssituation.
Fabian Ruch im Gespräch mit Ditaji Kambundji
Wie war Ihr Jahr 2022?
Dynamisch, intensiv, interessant. Im Sommer schloss ich die Matura am Sportgymnasium Neufeld in Bern ab, als Leichtathletin bestritt ich kurz danach die WM und die EM. Und im Herbst reiste ich mit einer Freundin knapp einen Monat durch Kolumbien, das war wunderbar. Ich bereute einmal mehr, als Schwerpunktfach am Gymer nicht Spanisch, sondern Biochemie genommen zu haben.
Ui ja, schwierige Wahl.
(lacht) Genau. Aber ich ging gerne zur Schule, die Bedingungen für mich als Sportlerin waren ideal. Ich hatte immer
einen Halbtag Schule und einen Halbtag Zeit fürs Training. Darum dauerte es auch fünf und nicht vier Jahre, bis ich die Matura hatte.
Und wie blicken Sie sportlich auf das Jahr zurück?
Es war meine erste Saison bei den Aktiven, ich bestritt keine Wettkämpfe mehr im U-20-Bereich. Ich bin natürlich
sehr zufrieden mit der Bronzemedaille an der Europameisterschaft in München. Und in meinem grössten Rennen bisher lief ich an der Weltmeisterschaft in Eugene mit 12,70 die schnellste Zeit des Jahres. Das waren tolle Veranstaltungen, die ich sehr genossen habe, nachdem der Fokus im ersten Halbjahr auch auf der Schule gelegen hatte.
Ab 2023 setzen Sie aber voll auf Sport, oder?
Ich mache jetzt eine Art Zwischenjahr und schaue, was am besten für mich ist und wo ich stehe. Diese Zeit nehme ich mir. Anfang November begann ich die Sportlerinnen-RS in Magglingen, weil das eine sehr gute Möglichkeit ist für Spitzensportlerinnen. Die Unterstützung ist riesig, ich kenne viele, die das gemacht haben. Man kann das Training individuell planen, die Konzentration gilt dem Sport. Ich stehe an einem wichtigen Punkt und werde mir sehr gut überlegen, wie ich in Zukunft trainieren möchte. Und genau das will ich 2023 herausfinden. Vielleicht werde ich auch einmal ins Ausland gehen, um andere Erfahrungen zu sammeln.
Sie gelten als Supertalent, haben mit 20 Jahren bereits eine EM-Medaille geholt. Welche Zeit halten Sie über
100 m Hürden für realistisch, wenn Sie sich so weiterentwickeln?
Ich bin noch sehr jung, deshalb ist das schwierig zu sagen. Ich habe auf jeden Fall das Potenzial, mich in allen Bereichen zu verbessern. Jede Athletin träumt von einem perfekten Lauf. Es ist ein Ansporn, wenn man sich Zeiten
vorstellt, aber wenn ich öffentlich über solche Zielsetzungen spreche, erhöht das nur unnötig den Druck.
Ihre Schwester Mujinga holte EM-Bronze über 100 m mit 24 Jahren. Kam diese sehr frühe Bronzemedaille
überraschend für Sie?
Mir war klar, dass ich richtig schnell laufen kann, wenn alles zusammenpasst. An einem Grossanlass kann jedoch immer viel passieren, gerade in einem Hürdenlauf, das hatte ich ja leider zuvor auch schon erlebt mit zwei Stürzen in wichtigen Rennen. Mein Ziel an der EM in München war, den Final zu erreichen. Als ich das geschafft hatte, konnte ich frei laufen. Und deshalb war es dann keine Sensation, wurde ich Dritte. Eine Medaille muss immer das Ziel sein, wenn man einen Final bestreitet.
Als wir Anfang Jahr zusammen sprachen, sagten Sie, sich vor wichtigen Rennen vorher besonders viel Zeit für sich zu nehmen, sich ausgiebig zu pflegen und schön zu frisieren. Bekämpfen Sie mit diesem Ritual auch die Nervosität?
Es ist mir wichtig, mich parat zu machen, ich fühle mich dann besser. Ich denke nicht, dass ich damit eine Ausnahme
bin, viele Sportlerinnen und Sportler tun das in der Leichtathletik. Wenn man sich herausputzt, um es mal so zu sagen, gibt einem das ein gutes Gefühl. Aber ich war jetzt nie besonders eitel.
Was waren Sie denn für ein Kind?
Ich war sehr aktiv und ständig draussen, kletterte auf jeden Baum. Meine Kindheit war auch dadurch geprägt, dass ich drei ältere Schwestern habe. Ich geniesse das bis heute sehr.
Ihre Schwestern sollen Sie wie ein lebendiges Bäbi behandelt haben…
(lacht) ... das habe ich auch gehört, sie fuhren offenbar gerne mit mir im Kinderwagen rum. Sie spielten auch später immer viel mit mir. Unser Verhältnis war und ist sehr eng. Als ich 12 war, durfte ich mit den drei grossen Schwestern nach New York, ohne die Eltern, das war ein spezielles Erlebnis, zumal die ältesten damals 24 und 22 Jahre alt waren.
Und wann war klar, dass Sie auch Leichtathletik machen würden?
Ich fing recht früh damit an. Meine Mutter sagte mir mal, dass ich schon mit zwei Wochen an einem Wettkampf der Schwestern dabei gewesen sei. Ich weiss auch noch, wie ich mit 6, 7 Jahren Läufe gewann und zum Beispiel die schnellste Mittelländerin war. Ich war später immer an den wichtigsten Rennen von Mujinga dabei, an Welt und Europameisterschaften, an denOlympischen Spielen 2016 in Rio, und dort habe ich mitbekommen, wie das abläuft. Das hat mich inspiriert.
Gibt es bestimmte Gründe oder Vorgeschichten, warum Leichtathletik in der Familie Kambundji so bedeutend ist?
Nein. Mein Vater kommt aus dem Kongo, er spielte immer gerne Fussball, da gab es wie bei meiner Mutter keine besondere Beziehung zur Leichtathletik. Es war wohl auch ein wenig zufällig, entwickelten wir uns so gut. Offenbar hatte ein Lehrer meinen Schwestern gesagt, sie sollen doch dem STB in Bern beitreten, weil sie ihn im Turnen beeindruckt haben. So fing alles an. Bei mir war es dann so, dass die älteren Schwestern alle schon im Klub waren. Ich nahm früh an Rennen teil, gewann sie oft, das hat mir Spass gemacht.
Wie entwickelten sich die Karrieren Ihrer zwei Schwestern, die heute nicht an der Weltspitze sind?
Sie waren auch gut. Kaluanda, die älteste Schwester, war eine Sprinterin, sie hörte aber mit 17 auf. Heute ist sie 32 und Gymnasiallehrerin für Sport und Französisch und bekam kürzlich ihr zweites Kind. Muswama, die altersmässig zwischen Mujinga und mir liegt, war leider länger verletzt, sie lebt heute in London und arbeitet im Finanzbereich. Dazu fährt sie im Winter noch Bob. Wir haben uns als Kinder immer auch gegenseitig angespornt und liebten es, Leichtathletik zu betreiben. Es war nie ein Zwang, sondern immer mit viel Freude und Leidenschaft verbunden. Das versuche ich auch heute noch auszuleben.
Gab es nie ein Konkurrenzdenken innerhalb der vier Schwestern?
Nein, niemals. Wir trainierten ja auch nicht unbedingt ständig zusammen, waren auch immer mit Freunden aus unserem Alter unterwegs. Wir wuchsen im Liebefeld in der Gemeinde Köniz auf, heute leben meine Eltern immer noch ganz von dort in der Stadt Bern, ich wohne noch bei ihnen. Wirunterstützten uns immer stark, auch die Eltern waren eine wertvolle Hilfe, sie drängten uns nie.
Die Ausbildung in der Leichtathletik ist sehr breit. Wann merkten Sie erstmals, dass Sie über die Hürden noch talentierter sind als in anderen Disziplinen wie dem Sprint?
Relativ spät, das ist erstaunlich. Früher machte ich alles, sicher auch ab und zu einen Hürdenlauf. Am liebsten mochte
ich den Sprint, da eiferte ich meinen Schwestern nach. Schliesslich spezialisierte ich mich etwa mit 12 Jahren auf den Mehrkampf, weil ich ziemlich vielseitig war. Bis zur U-18-Kategorie bleibt es ein Fünfkampf, dann wird es der Siebenkampf, da kommt Hürdenlauf dazu. Und ich dachte damals, dass mir das nicht so liegen würde.
So kann man sich irren.
Und wie! Ich musste natürlich erst mal den korrekten Bewegungsablauf lernen, spürte aber bald, dass mir das liegt.
Vielleicht wäre ich auch im Siebenkampf erfolgreich gewesen, aber sicher niemals so wie jetzt über die Hürden. 2019 hörte ich deshalb mit dem Siebenkampf auf, seither konzentriere ich mich auf die 100 Meter Hürden.
Wie stark war Ihr Wunsch, so erfolgreich wie Ihre Schwester Mujinga zu werden?
Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht vorstellen, nur annähernd so weit wie Mujinga zu kommen. Sie war so erfolgreich,
so beliebt, so schnell. Mich hat es fasziniert, sie an diesen grossen Anlässen zu beobachten. Ich erinnere mich zum Beispiel an die WM 2017 in London, das war eine imposante Veranstaltung. Dort gab es eine Wunschwand, auf der die Zuschauer ihre Träume aufschreiben konnten. Ich war so inspiriert vom Moment und davon, was Mujinga schon erreicht hatte, und wollte auch so weit kommen. Und so suchte ich mir ein Ziel, das ich in absehbarer Zukunft erreichen konnte. Das war die Teilnahme an den Youth Olympics 2018 in Buenos Aires, für die ich mich dann tatsächlich auch qualifizieren konnte.
Sind es diese Zielstrebigkeit und diese Fokussierung, die Sie unter anderem von Mujinga abgeschaut haben?
Ich bin immer noch am Abschauen und am Mitnehmen, denn Mujinga ist auch für mich ein Vorbild. Ich sah zudem,
welche Schwierigkeiten sie auch einmal hatte, da kann ich heute viel profitieren. Ganz grundsätzlich gehe ich aber
meinen eigenen Weg, ich muss auch gewisse Erfahrungen selber machen. Was schön ist: dass wir das Zimmer teilen
können, wenn wir am gleichen Wettkampf sind, oder auch mal gemeinsam in ein Restaurant gehen können. Wenn
jemand aus der Familie dabei ist, hilft das sehr.
Welche Werte haben Ihnen die Eltern mitgegeben?
Spannend ist der Mix aus der Schweiz und dem Kongo. Meine Mutter kommt aus dem Berner Oberland, sie ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, unser Grosi lebt immer noch dort. Auch mein Vater ist sehr offen, sehr kontaktfreudig, die Lebensfreude haben uns beide mitgegeben. Die afrikanische Seite meines Vaters schlägt durch, ich koche und esse gerne Spezialitäten aus seiner Heimat wie Fufu, das ist ein spezieller Brei. Zudem singen wir oft, unser Papa hat uns kongolesische Lieder beigebracht, als wir kleiner waren.
Sie sind wie Ihre Schwestern sehr aufgestellt. Denken Sie, es wird schwierig sein, diese Lockerheit und Fröhlichkeit zu behalten, wenn Sie noch stärker im Fokus der Öffentlichkeit stehen werden?
Das denke ich nicht. Auch hier ist Mujinga ein Vorbild, weil sie gelernt hat, mit den Ansprüchen der Medien, der Sponsoren, des Publikums klarzukommen. Interviews zum Beispiel bereiten mir Spass, das ist für mich kein Stress. Und es ist wichtig, dass man seinen Freundeskreis hat, da bin ich immer noch Didi, wie mich alle seit früher Kindheit nennen, und niemand anderes.
Die Pandemie hat vielen jungen Menschen zugesetzt, weil sie eingesperrt waren in einer Lebensphase, in der man die Welt entdecken will oder zumindest den Ausgang. Wie war das bei Ihnen?
Das hat mich nicht gestört, weil ich als Sportlerin schon seit Jahren weiss, dass es nicht sinnvoll ist, sich während der Saison die Nächte um die Ohren zu schlagen. Es hört sich vielleicht schräg an, weil Corona so viel Leid verursacht hat, aber als Athletin habe ich sogar von der Pandemie profitiert. Ich musste weniger zur Schule gehen und hatte trotz gewissen Einschränkungen immer tolle Trainingsbedingungen in Bern. Und weil die Olympischen Sommerspiele in Tokio um ein Jahr verschoben wurden, durfte ich ein Jahr später daran teilnehmen. 2020 hätte ich mich noch
nicht dafür qualifiziert.
Sie sagten vorhin, dass Sie an einem wichtigen Punkt Ihrer Karriere stehen. Wie sehr sind Sie eine Tüftlerin, die sich ständig Gedanken darüber macht, wie man noch schneller über die Hürden laufen könnte, weil da ja Details und Hundertstelsekunden entscheiden?
Man muss akribisch sein als Spitzensportlerin. Und gerade als Hürdensprinterin ist es tatsächlich so, dass Kleinigkeiten den Unterschied ausmachen. In dieser Beziehung bin ich bestimmt noch nicht am Ende meiner Entwicklung angelangt. Ich kann schneller laufen, ich kann flacher über die Hürden springen, ich kann die Startposition verbessern. An diesen Details zu arbeiten, darauf freue ich mich.
Was weniger bekannt ist: Es gab in den letzten zwei Jahren auch bittere Rückschläge für Sie, weil Sie in zwei wichtigen Rennen stürzten. Wie sehr haben Sie diese Ereignisse geprägt?
In den Momenten der Stürze war es hart. Ich habe extrem viel daraus gelernt. Mir war wichtig, dass ich wusste, was ich falsch gemacht hatte, damit keine Zweifel blieben. Das waren eben genau solche Kleinigkeiten im Schrittablauf. Und in einem Final nimmt man immer noch ein bisschen mehr Risiko, da kann es mit den Hürden schon einmal zu einem Zwischenfall kommen.
Sie stürzten 2021 an der U-20-WM in Nairobi, als Sie die klare Favoritin auf die Goldmedaille waren. Und dann auch in diesem Jahr im Frühling an der Hallen-WM in Belgrad. War das später an der WM in Eugene und an der EM in München im Hinterkopf?
Zum Glück nicht. Während eines Laufs denkt man ohnehin nicht besonders viel, man will einfach so schnell wie möglich rennen. Und ich weiss ja, dass ich problemlos einen Lauf absolvieren kann, ohne dass ich stürze. Würde ich zu negativ denken, hätte das einen Einfluss auf meine Leistung. Ich spreche ab und zu mit einer Sportpsychologin, diese Unterhaltungen sind anregend und helfen mir. Ich arbeite gerne mit Atemübungen. Sonst versuche ich, alles
möglichst einfach zu halten, ich visualisiere auch nicht, wie ich ein Rennen gewinne und dann oben auf dem Podest stehe.
Wir erinnern uns an Tränen nach Ihren Stürzen. Ganz so locker haben Sie diese Ausfälle schon nicht genommen.
Natürlich nicht. Und heute kann ich auch leichter darüber reden, weil ich an den zwei nächsten Grossanlässen nicht
gestürzt bin, sondern gute Resultate erzielte. Die Tränen kamen, weil ich hohe Erwartungen gehabt hatte und an der
Junioren-WM hätte gewinnen können. Es war dann entscheidend, dass ich das Bewusstsein entwickelte, vermutlich
noch einige wichtige Rennen bestreiten zu können. Diese beiden Weltmeisterschaften in Nairobi und Belgrad verliefen nicht prickelnd, aber sie haben mir gezeigt, was alles passieren kann.
Und: Es geht immer weiter. Nun gehören Sie zu den grössten Schweizer Sportlerinnen, bald werden Sie wohl kaum noch inkognito nach Kolumbien in die Ferien gehen können. Haben Sie auch ein wenig Respekt davor, vielleicht derart populär wie Ihre Schwester Mujinga zu werden?
Ich lasse das alles auf mich zukommen. Wir sprachen vorhin über Lerneffekte, und was ich bei Mujinga ganz bestimmt gesehen habe: immer nur den nächsten Schritt zu planen.
Sind Sie eigentlich extrovertierter oder introvertierter als Ihre Schwester?
Ich bin zehn Jahre jünger und möglicherweise auch deshalb noch ein wenig extrovertierter (lacht). Mujinga
hat in ihrer Karriere viel Erfahrung gesammelt, sie ist abgeklärter und ruhiger. Das ist alles ein Reifeprozess, auf
den ich mich sehr freue.
Fabian Ruch ist wie die Kambundji- Schwestern in der Gemeinde Köniz aufgewachsen. Seine beste Freundin
und sein bester Freund waren als Kinder ebenfalls begeistert und talentiert in der Leichtathletik unterwegs (aber
in der GGB und nicht im STB). Er hat die Schnelligkeit der beiden immer bewundert. Als Fussballer spielt er im
zentralen Mittelfeld – unter anderem, weil es dort weniger auffällt, dass er eher keine besonderen Sprintfähigkeiten
hat.
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