Ilaria Renggli kann bis 2020 gar nichts anfangen mit Ballsportarten. Keine vier Jahre später gehört die 24-jährige Aargauerin zu den besten Badminton-Spielerinnen der Welt. Eine Geschichte über einen rasanten Aufstieg, eine schnelle Auffassungsgabe und die Faszination, denselben Schlag stundenlang zu üben.
Simon Scheidegger über Ilaria Renggli
Es ist ein Nachmittag Ende März. Im aargauischen Birrhard nimmt der Frühling erste zaghafte Gehversuche, und die Sonne sorgt für ungewohnt warme Temperaturen. Es sind Wetterbedingungen, welche die Menschen scharenweise nach draussen locken. Auch Ilaria Renggli hätte nichts dagegen, zu flanieren und den Tag gemütlich ausklingen zu lassen.
Doch die 24-Jährige hat zu tun. Während auf der A1 die Autos sich langsam zur blechernen Schlange formieren, die nur noch schleppend über den Asphalt kriecht, steht Renggli auf dem Parkett in der danebenliegenden Badmintonhalle und feilt an ihrem Spiel. Manchmal bedaure sie es schon, Badminton bei schönem Wetter nicht auch draussen spielen zu können, sagt Renggli, aber die Leidenschaft für Shuttle und Schläger ist mittlerweile so gross, dass es nur ein kleiner Wermutstropfen ist.
Training mit den Besten
Es ist eine junge Leidenschaft. Denn Ballsportarten sind lange gar nicht das, was die Aargauerin fasziniert. Vielmehr ist es das Kunstturnen. Am Boden turnt sie am liebsten. Doch nach einer Operation führt eine Blutung im Rücken zur Paraplegie, und Renggli muss sich sportlich neu orientieren. Während der Reha probiert sie Badminton aus.
Wer beobachtet, wie sie sich heute über den Platz bewegt, wie sie ihren Rollstuhl blitzschnell wendet, vor- und zurückfährt, auch tiefgespielte Shuttles noch übers Netz bringt und mit kräftigen Schlägen ihre beiden Trainingspartner an diesem Tag arg in Bewegung versetzt, kann sich schwer vorstellen, dass dies zu Beginn noch ganz anders ausgesehen hat.
Keinen Ball getroffen habe sie, erzählt Renggli und lacht, wenn sie an ihr erstes Training zurückdenkt. Doch sie lässt sich nicht entmutigen. Weil es nicht viele Spielerinnen und Spieler gibt, darf sie schnell einmal mit dem Nationalkader trainieren. Sie fungiert als Sparringpartnerin für Karin Suter-Erath und Cynthia Mathez, die sich auf die Paralympics in Tokio vorbereiten, und macht schnell Fortschritte. «Dass ich gleich mit den Besten trainieren konnte, hat mir sehr geholfen », sagt Renggli, die sich zu Beginn manchmal noch von ihren Teamkollegen anhören muss, dass man merke, dass sie keinen Hintergrund mit Ballsportarten habe.
Doch die in der Gemeinde Hottwil Wohnhafte arbeitet hart, sie feilt mit Jonglieren an ihrer Koordination, und als die Corona-Pandemie die Welt lahmlegt, widmet sie dem Training noch mehr Zeit. Während für andere Techniktraining zu den Strafaufgaben gehört, kann Renggli stundenlang denselben Schlag üben, ohne dass ihr langweilig werden würde. «Egal, wie viel du trainierst, du kannst dein Spiel immer perfektionieren », sagt Renggli. «Du hast nie einen Punkt erreicht, an dem du sagst: ‹Jetzt kann ich alles.› Das motiviert mich, immer besser zu werden.» Im März 2021 ist dann endlich der Moment gekommen, in dem sie ihr Können an einem Turnier unter Beweis stellt. Die Premiere in Dubai glückt, und Renggli holt im Einzel die Bronzemedaille.
Auf Anhieb zu WM-Bronze
Es ist ein Moment, der Renggli zeigt, dass sich die harte Arbeit auszahlt, dass sie zwar nicht die talentierteste Spielerin ist, der alles leicht von der Hand geht, aber mit Fleiss und gezieltem Training der Weg an die Weltspitze offensteht. Nach den Paralympics in Tokio wird Renggli die neue Doppelpartnerin von Cynthia Mathez, die an der Seite der zurückgetretenen Karin Suter-Erath in Japan den 4. Rang belegte.
Im nächsten Jahr steht Renggli bei jedem Turnier auf dem Podest, sowohl im Einzel als auch im Doppel. Sie sammelt so viele Punkte, dass sie zwischenzeitlich in der Weltrangliste als Nummer 1 geführt wird. Und bei ihrer WM-Premiere in Tokio gewinnt sie auf Anhieb Bronze. Es sind Fakten eines ultraschnellen Aufstiegs an die Weltspitze, wobei Renggli zwei Dinge zur Relativierung aufführt: Bei der WM hätten damals die chinesischen Spielerinnen gefehlt, und ihr Er klimmen der Topposition in der Weltrangliste sei dadurch begünstigt gewesen, dass andere weniger Turniere gespielt hätten. «Aber», sagt sie, «ich bin vielleicht bereit, mehr zu investieren, als andere, bin sehr ehrgeizig. Wenn ich sehe, dass andere besser sind, motiviert es mich, auch auf dieses Niveau zu kommen.»
Diese Aussage liefert einen Anhaltspunkt dafür, mit welcher Einstellung Renggli sich nach oben gearbeitet hat. Fürs Klarinettespielen in der Musikgesellschaft Suhr fehlt ihr aktuell die Zeit, und die Ausbildung zur Lehrerin will sie dann in Angriff nehmen, sobald Badminton nicht mehr oberste Priorität hat. Doch trotz unbändigen Ehrgeizes: Dass sich eine Spielerin innert weniger als vier Jahren in die Weltelite hievt, ist aussergewöhnlich. Findet auch ihr Trainer.
Marc Lutz ist nicht nur Nationaltrainer, sondern auch Ilaria Rengglis persönlicher Coach. Die beiden arbeiten seit Ende 2020 zusammen. Lutz erstellt die Trainingspläne und die Saisonplanung, und neben den drei bis vier Einheiten, die er mit seiner Athletin wöchentlich durchführt, koordiniert er die Trainings mit den anderen Coaches, die mit Renggli zusammenarbeiten. Neben Lutz sind dies zwei weitere Badmintontrainer, jemand, der sich ums Krafttraining kümmert, sowie ein Spezialist fürs Ausdauer- und Mentaltraining. Sonntags ist frei, ansonsten steht Renggli insgesamt rund 18 Stunden pro Woche auf dem Badminton-Court.
Flexibilität auf dem Court
Die meiste Zeit davon eben mit Lutz, der über 25 Jahre Erfahrung im Badminton verfügt. Er hat viele Athletinnen und Athleten gesehen und auf Spitzenniveau gebracht, aber Ilaria Renggli verblüfft ihn doch immer wieder. Lutz erzählt, dass Renggli über ein super Körpergefühl verfüge und koordinativ sehr stark sei. Zudem habe sie eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Wenn er im Training etwas erkläre, beobachte Renggli zuerst, dann frage sie vielleicht nach, und dann könnten sie schon mit dem Aufbautraining beginnen. «Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die so schnell etwas Neues umsetzen können», sagt Lutz.
Er bezeichnet seine Athletin als «gedanklichen Staubsauger». Renggli sei unglaublich neugierig und wolle alles wissen. Es sind Eigenschaften, die Renggli beim Aufstieg an die Weltspitze geholfen haben. Lutz sieht aber auch, dass seine Athletin sich manchmal noch besser abgrenzen müsse, weil zu viele Eindrücke und Informationen auch ermüdend sein könnten. Zudem arbeitet der Trainer daran, dass Renggli auf dem Court flexibler wird und besser auf unvorhergesehene Situationen reagieren kann. Denn momentan lege er sich mit ihr für eine Partie eine bestimmte Taktik zurecht, welche Renggli dann umsetze. Sobald aber die Gegnerin etwas umstelle, habe Renggli manchmal Mühe, auch ihr Spiel zu adaptieren. Dem will Lutz entgegenwirken, indem er Übungen im Training von einem Moment auf den anderen umstellt.
Es ist eine eingespielte Zusammenarbeit zwischen Spielerin und Trainer und vor allem eine, die eben viel schneller von Erfolg gekrönt war als angenommen. Lutz erzählt, dass zu Beginn eigentlich die Paralympics 2028 in Los Angeles als Fernziel definiert worden seien. «Doch Ilaria machte so schnell Fortschritte, dass wir die Paralympics schon bald früher in den Fokus rücken konnten.»
Motivierende Niederlage gegen Japan
Renggli bereist 2023 mit Doppelpartnerin Mathez die Welt, spielt in Kanada, Brasilien, Thailand, Australien. Insgesamt bei neun Turnieren treten die beiden an und sammeln wertvolle Punkte in der «Race to Paris»-Rangliste, welche am Ende der Qualifikationsphase ausschlaggebend dafür ist, welche sechs Nationen sich über den Doppel-Wettbewerb für die diesjährigen Paralympics qualifizieren können, die ab Ende August in der französischen Hauptstadt stattfinden.
Und Renggli kommt zu ihrer Premiere bei Europameisterschaften. Der Ausflug nach Rotterdam im August verläuft hervorragend. Neben Silber im Einzel liefert sie an der Seite von Mathez mit dem Gewinn der Goldmedaille den Beweis ab, dass das Duo mittlerweile zum Besten gehört, was die Welt zu bieten hat. «Ich habe letztes Jahr eigentlich nur aus dem Koffer gelebt», sagt Renggli, die zwischen April und August auch noch die Spitzensport-RS in Magglingen absolviert hat und seither als Profi unterwegs ist.
Aber die Strapazen zahlen sich aus. Als Renggli und Mathez im Februar an der WM in Thailand den Einzug in die Viertelfinals schaffen, ist klar, dass sie nicht mehr aus den Top-6 verdrängt werden können. «Die Erleichterung und die Freude waren riesig, als wir wussten, dass wir es geschafft haben», sagt Renggli. Und obwohl sie im WM-Viertelfinal gegen das japanische Duo Satomi/Yamazaki deutlich unterliegen, sprechen sowohl die Spielerinnen als auch ihr Trainer im Anschluss von der besten Leistung, die sie bisher auf den Platz gebracht hätten.
«Zu merken, dass sie gegen ein Topteam eine solche Leistung abrufen können, hat Ilaria und Cynthia einen grossen Motivationsschub verliehen und einen Knopf gelöst», sagt Marc Lutz, der Renggli zu Weihnachten einen kleinen Eiffelturm geschenkt hat, um sie zusätzlich zu pushen auf dem Weg an ihr bisher grösstes Turnier. Doch was ist möglich in der französischen Metropole?
Renggli zögert, sagt, es komme auf die Auslosung an. «Wenn diese für uns gut läuft, könnte eine Medaille drinliegen.» Und Trainer Lutz sieht von den möglichen Gegnerinnen in der Doppelkonkurrenz (China, Japan, Thailand, Südkorea und Taiwan) nur die Chinesinnen klar überlegen. «Wenn Ilaria und Cynthia ihr bestes Badminton zeigen können, ist eine Medaille möglich.»
Simon Scheidegger ist Sportredaktor bei Keystone-SDA. Der Ausflug in die Badmintonhalle erinnerte ihn an Kindertage, als im Garten der Grosseltern manchmal die Shuttles hin und hergeflogen waren.
Comments