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Vom Traum zum Trauma

Es gab in den letzten Jahren einige aufsehenerregende Vorfälle bezüglich Gewalt im Frauensport. Dabei geht es nicht nur um körperliche Gewalt, sondern beispielsweise auch um psychische und seelische Gewalt. Es gilt, die «Kultur des Schweigens» weiter zu durchbrechen. Zudem sind nicht nur die Verbände gefordert, die oft jungen Athletinnen besser zu schützen.


Marianne Meier über Gewalt im Frauensport



175 Jahre Haft – so lautete 2018 das Urteil gegen einen Arzt des US-Turnverbands. Über 20 Jahre hatte Larry Nassar

ohne Konsequenzen Hunderte von Athletinnen sexuell missbraucht. Darunter waren auch Ausnahmesportlerinnen

wie die Turnerin Simone Biles. In der Schweiz sorgten 2020 die sogenannten Magglingen-Protokolle mit mutigen Erfahrungsberichten rund um Gewaltvorfälle im Schweizer Turnverband (STV) für Wirbel. Obwohl Gewalt in allen Sportarten vorkommt, scheinen gewisse «Milieus», wie etwa Kunstturnen und Rhythmische Sportgymnastik, ein grösseres Risiko für Übergriffe oder Missbrauch darzustellen. Reichen die Entlassungen von Nationaltrainerinnen und Nationaltrainern sowie Funktionären, wenn die Gewalt und das Schweigen dazu System haben? Ist humaner Spitzensport überhaupt möglich? Oder gehört das Leiden zum Preis des Erfolgs?


Gewalt kennt viele Fratzen


Es braucht keine blauen Flecken oder blutigen Gesichter, um von Gewalt betroffen zu sein. Der in diesem Text verwendete Gewaltbegriff geht über körperliche Gewalt hinaus und schliesst auch psychische oder seelische Gewalt

mit ein. Dazu gehören Beschimpfungen, Erniedrigungen, Mobbing, Drohungen und auch Verletzungen der Privatsphäre. Gewalt kann verbal und nonverbal (zum Beispiel durch Gesten) erfolgen. Auch bei der sexualisierten Gewalt umfasst das breite Spektrum etwa Kommentare zur Figur, sexistische Anzüglichkeiten, psychische Druckausübung, Streicheln bis hin zur Vergewaltigung. Somit ist nicht jede Gewaltform automatisch strafrechtlich relevant. Im Sport existiert auch strukturelle Gewalt, wobei etwa Machtpositionen für (Nicht-)Selektionen missbraucht werden können. Auch jede Art der Diskriminierung (Homophobie, Rassismus, Sexismus etc.) gehört zum Gewaltspektrum.


Anfällige «Milieus» und «Kindersportarten»


Der Spitzensport weist nach wie vor patriarchale und heteronormative Grundstrukturen auf. So stehen etwa in der Rhythmischen Sportgymnastik (RG) altertümliche Geschlechterstereotype des verspielten Mädchens mit Dauerlächeln der Realität eines knallharten und teils schmerzhaften Trainingsalltags gegenüber. Dieses «Schein und Sein» prägt auch die Kultur des Frauenkunstturnens (FKT) seit Jahrzehnten. Von diesen traumatischen «zwei Welten» erzählt die Ex- Spitzenturnerin Ariella Kaeslin im Buch «Leiden im Licht» (2015). Athletinnen werden auf das «Mädchen-sein» mit passendem Kleid, Haar, Make-up, Körper etc. reduziert. Die in der Sportwelt zur Schau gestellten «natürlichen» Rollenzuordnungen von Männern und Frauen tragen ihrerseits als Normalisierungsprozesse zur Macht und Kontinuität der binären Geschlechterordnung bei.


Im Zeugenstand: Die US-Amerikanerin Simone Biles. (Keystone)


Sowohl beim FKT als auch bei der RG zählt das Mädchenhafte und Grazile. Bei diesen «Kindersportarten» beginnen

viele Gymnastinnen und Turnerinnen bereits im Alter von 4 bis 5 Jahren mit mehreren Trainings pro Woche. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich das Bindegewebe für körperliche Extrempositionen noch «gut» formen. Zusätzlich wird möglichst lange versucht, das Kindliche und Mädchenhafte ungeachtet der biologischen Entwicklung zu bewahren. Turnerinnen unterliegen also ausgerechnet während ihrer (prä)pubertären Entwicklung einer besonders hohen Trainingsbelastung. Im Gegensatz dazu erreichen Kunstturner ihren Leistungszenit zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr; also etwa drei Jahre später als die Frauen. Turnelemente der Jungs und Männer sind kraftassoziiert und müssen ästhetisch-grazile Ansprüche weniger erfüllen. Zudem steht das Bild eines muskulösen erwachsenen Mannes nicht im Widerspruch mit der Idealvorstellung eines Turners.


Nährboden für strukturelle Gewalt im Sport


Bei den Magglinger Gewaltberichten handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um strukturell bedingte Gewalt.

Doch worin besteht der Nährboden im Sportkontext, der eine toxische Kultur der Angst hervorbringt und begünstigt?

Welches sind die Bedingungen, die sich im Namen der Gewaltprävention und zur Umsetzung des vielzitierten «Kulturwandels» im Sport verändern müssen? Eine erste Ursache struktureller Gewalt stellt der Mangel an weiblichem Führungspersonal in vielen Sportverbänden dar; insbesondere im Leistungssport. Zudem verhindert das weit verbreitete «Sesselkleben» in wichtigen Positionen nötige Reformen und sorgt für Intransparenz. Wohlgemerkt gibt es auch Trainerinnen oder Funktionärinnen, die in gewaltbegünstigenden Sportsettings sozialisiert wurden und dieselben Muster oftmals unkritisch reproduzieren. Eine sorgfältige Rekrutierung liefert somit auch positive Vorbilder für den Nachwuchs.


Diesbezüglich hat der STV mit Béatrice Wertli als neuer Direktorin und Wendy Bruce-Martin als kürzlich ernannter

Cheftrainerin im FKT wichtige Zeichen gesetzt. Zweitens wird Gewalt im Sport durch strukturelles Machtungleichgewicht begünstigt, was vor allem Minderjährige betrifft. So nützte zum Beispiel der US-Arzt Nassar seine Machtposition als preisgekrönter Mediziner schamlos aus. Unzählige Hinweise von missbrauchten Athletinnen wurden vom Verband jahrelang ignoriert. Die Unantastbarkeit von einflussreichen Personen kann auch zu emotionalen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Athletinnen und Trainerinnen und Trainern oder zwischen Athletinnen und den (meist männlichen) Funktionären führen. Dabei spielt drittens auch die Leistungsorientierung im Spitzensport eine bedeutende Rolle. Dies kann nicht zuletzt zu Druck führen, den Verbände auf Trainerinnen und Trainer ausüben. Und diese geben dann den Leistungsdruck in Form von Übergriffen «nach unten» weiter. Die jahrzehntelang praktizierte «Kultur des Schweigens» stützt dieses System zusätzlich. Sie war sogar in der sogenannten Athletenvereinbarung des STV festgelegt. So hätte eine Athletin mit negativen Äusserungen in den Medien eine Nicht-Selektion oder gar einen Rauswurf und somit das Ende ihres Karrieretraums befürchten müssen. Dies ist eine Form von struktureller Gewalt.


Strukturelle Gewalt kann viertens auch in der internen und externen Kommunikation von Vereinen oder Verbänden zum Ausdruck kommen. Da wird Gewalt im Sport nach wie vor oft verschwiegen, negiert, bagatellisiert und normalisiert («Das war schon immer so»). Bei diesen Neutralisierungs- und Verharmlosungsstrategien erhalten «Opfer» oftmals Schuldzuweisungen («Die hat das ja selber so gewollt»). Zudem werden Personen, welche erlebte Gewalt benennen, isoliert und als schwach herabgestuft («Die ist eben zu empfindlich»). Durch dieses Abstreiten von Gewaltvorfällen wird auch Prävention verhindert. Um dieser «Kultur des Schweigens» entgegenzuwirken, muss das Thema auf allen Ebenen proaktiv immer wieder bei Sitzungen, Aus- und Weiterbildungen, Interviews, Kampagnen etc. aufgegriffen werden. Diese Enttabuisierung trägt dazu bei, dass sich Unrecht nicht durch Scheinwerferlicht und Medaillen wegretuschieren lässt.


Erfolg oder Menschenwürde


Im Gegensatz zur biologischen Entwicklung eines Menschen lassen sich Reglemente verändern, ohne dass ein Schaden entsteht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ist jedoch Edelmetall für eine Turnerin oder Gymnastin nur erreichbar, wenn sie psychisch gebrochen wird, dann müssen die Bewertungskriterien überarbeitet werden. In erster Linie gilt es sicherlich mit Altersbeschränkungen ein Zeichen zu setzen. Dann wäre die Zeit auch reif, um Klischees der zierlichkindlichen Weiblichkeit im FKT und der RG aufzulösen zugunsten von Richtlinien betreffend Ästhetik, Technik und Athletik. Auch gewisse Kleidervorschriften bei den Frauen/Mädchen stellen die Athletinnen, und intime Körperbereiche, in unnötiger Weise zur Schau. Dieses Exponieren erhöht den Druck auf die Athletinnen zusätzlich, dass kein überzähliges Gramm zu sehen sein darf. Regeländerungen könnten mittelfristig durchgesetzt werden, aber ein echter Gesinnungswandel braucht Zeit.


Ethikverstösse und Kulturwandel


In der Schweiz haben das Bundesamt für Sport (BASPO) und Swiss Olympic schon vor 20 Jahren eine Ethik-Charta im Sport eingeführt. Diese besagt klar und deutlich, dass «physische und psychische Gewalt sowie jegliche Form von Ausbeutung nicht toleriert werden». Auch die Massnahmen stehen explizit in der Charta: «Sensibilisieren, wachsam sein und konsequent eingreifen». Die Verantwortlichen sind jedoch ihrer Aufsichtspflicht zum Schutz der Sportlerinnen ungenügend nachgekommen. So hätten etwa Fördergelder an die Sportverbände bei Ethik-Verstössen

gekürzt werden können. In der Praxis geschah dies jedoch nicht, weil die Formulierungen der Ethik-Charta als zu «schwammig» galten. Zu diesem und anderen Schlüssen kam ein unabhängiger Untersuchungsbericht, der von Sportministerin Viola Amherd in Auftrag gegeben worden war. Kann es also wirklich sein, dass das Schweizer Sportsystem aufgrund fehlender Auslegungshilfen unzählige Gewaltvorfälle nicht als solche erkennen konnte oder wollte? Oder fehlte das Know-how oder einfach der Mut zu unpopulären Sanktionen? Nach der Veröffentlichung der Untersuchung kündigte das Departement VBS die Umsetzung von Ethikgrundsätzen und somit einen Kulturwandel im Schweizer Sport an. Dazu müssen gewaltbegünstigende Strukturen erkannt, benannt und transformiert werden. Eine dringend benötigte anonyme Meldestelle (Swiss Sport Integrity) wurde bereits eingerichtet. Ein solcher Veränderungsprozess ist langfristig anzulegen und laufend unabhängig zu überprüfen. Die Gesundheit der Beteiligten darf nie dem sportlichen Erfolg geopfert werden. Die Sportverbände, Swiss Olympic und das BASPO haben es in der Hand, dass junge Athletinnen auf dem Weg zur Spitze nicht mehr Gefahr laufen, an ihrem so geliebten Sport und Traum kaputt zu gehen.


Dr. Marianne Meier ist Historikerin und Genderforscherin an der Universität Bern. Sie gilt nicht nur als Schweizer Expertin im Frauenfussball, sondern kickt das runde Leder auch selber fürs Leben gerne. Seit November 2021 ist sie Vizepräsidentin der International Association of Physical Education and Sport for Girls and Women (IAPESGW).


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